Léonide (German Edition)
Gestalt, das blassblaue Hemd und die dunkle Hose mit H o senträgern.
»Willem?«
Meine Frage hallt durch das Kirchenschiff, verklingt wie ein Wort, das besser unausgesprochen geblieben wäre. Der Mann dreht sich langsam zu mir um.
Tatsächlich blickt mir von der Kirchenbank mein Bruder entgegen , und doch ist er es nicht . E r , der Bruder, der er fr ü her war, denn er mustert mich aus zwei leuchtend blaugr ü nen Augen. Sein rotblonder Bart betont seine hervorstehe n den Wangenknochen und das schmale Gesicht, das von seinem gren z gängerischen Lebensstil herrührt. Ich wünsche mir, ihn lächeln zu sehen, doch sein Gesicht bleibt angespannt.
Er kratzt sich hinter dem Ohr, eine vertraute Geste. »Was wollen Sie?«
Ich habe das Gefühl, gleichzeitig zu schweben und zu fallen. Willem erinnert sich nicht an mich, es ist, als hätten wir uns nie gekannt. Ich habe mich davor gefürchtet, ihn zu vergessen, doch nun bin ich selbst vergessen worden.
Als wäre nicht er tot, sondern ich … Als würde ich gar nicht existieren.
»Du erinnerst dich nicht an mich.« Zu fragen bringe ich nicht über mich, denn dann müsste ich mir eingestehen, dass noch immer Hoffnung in mir ist – eine falsche, unbegründete Hoffnung, die ich mir nicht erlauben darf.
Willem erhebt sich von seinem Platz auf der Bank, tritt in den Kirchengang und kommt zu mir herüber. Seine Augen wirken ernst und konzentriert, voll einschüchternder Leuch t kraft – sie brennen im Feuer der südfranzösischen Sonne, rot und ockerfarben wie der Fels, sandgelb wie die Weizenfe l der und orangefarben wie Glut. Er dreht einen Hut in den Hä n den, den ich auf den ersten Blick erkenne . Es ist der Strohhut, den ich ihm geschenkt habe.
»Kenne ich Sie?« Seine Stimme ist rau. Unsicher.
Es ist lange her. Es kommt mir vor, als wäre es lange her, aber das ist es nicht, es ist ganz nah, noch so nah.
»Du hast mich gekannt«, antworte ich, »aber das war früher, an einem anderen Ort.«
Willem nickt, als wüsste er, dass das alles ist, was ich sagen kann. Er wirkt ruhig, entspannt, ganz anders, als ich ihn in E r innerung habe. Als hätte er Frieden mit sich und der Welt g e schlossen.
»Du malst noch?«
»Malen? Nein, ich … ich male nicht.« Er macht eine Pause, als müss t e er länger darüber nachdenken. Als könn t e er seinen eigenen Worten nicht trauen.
»Du warst einmal ein guter Maler.« Ich schlendere zu e i nem der Gemälde hinüber, die an den Kirchenwänden hä n gen, und betrachte es. »Vielleicht denkst du, das sei lange her.«
»Lange her … «, murmelt Willem. »Wie merkwürdig – ich e r innere mich an nichts mehr.«
»Weißt du, wie du hierhergekommen bist?«
Mein Bruder reibt sich selbstvergessen die Stirn, dann tritt ein erschrockenes Leuchten in seine Augen. »Ich weiß nicht. Ich erinnere mich an überhaupt nichts von dem, was passiert ist, bevor Sie die Kirche betreten und meinen Namen gesagt haben.«
»Du hast gebetet«, sage ich nach einer Weile. »Du saßt auf der Bank und hast gebetet.«
»Ja, das habe ich wohl.«
Seine Worte lähmen mich und ich wende meine Aufmer k samkeit noch einmal dem Gemälde zu, um mein Gesicht vor ihm zu verbergen. M eine Hände zittern und ich balle sie zu Fäusten, doch das Zittern verebbt nicht, es kommt aus einem Ort in meinem Inneren, den ich nicht ke n ne, nicht beherrsche.
Das Bild stellt den Höllensturz dar . Es zeigt Luzifer, auf dem Boden kauernd, rothäutig und umgeben von Flammen . Ü ber ihm, mit ausgebreiteten Schwingen, steht der Erzengel Michael, einen Fuß auf Luzifers Haupt, in einer Hand ein Schwert, in der anderen die Ketten, mit denen er den Teufel gefesselt hat. Michael ist kriegerisch in Gold, Rot und Blau gekleidet und im Begriff, den anderen mit einem Schwer t streich zu töten.
» Da entbrannte im Himmel ein Kampf «, sagt Willem wie aus we i ter Ferne, » Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde g e stürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt ve r führt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen . «
»Ich glaube nicht, dass es die alte Schlange gibt. Himmel und Hölle wurden von Menschen erschaffen.«
»Aber glauben Sie denn nicht, dass wir nach dem Tod für unsere Taten zur Verantwortung gezogen werden? Dass der
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