Léonide (German Edition)
ich folgen muss .
Wäre es möglich, Sie zu sehen? Wie Sie wahrscheinlich wi s sen, bin ich zur z eit in Beaucaire bei meiner Tante, die ich um j e den Preis aus di e ser Sache heraushalten möchte. — Léonide
Ich lese den Brief zweimal, ehe ich ihn in einen Umschlag st e cke und versiegle. Noch vor Morgengrauen verlasse ich das Haus, um ihn aufzugeben.
Auf dem Rückweg passiere ich den Kanal, auf dessen Obe r fläche sich das Licht der aufgehenden Sonne spiegelt. Als ich meine Hände in die Manteltaschen grabe, bemerke ich darin die Phiole mit Willems Medizin, die ich ganz vergessen habe. Ich nehme sie heraus, beobachte, wie sich das Licht in ihrer Facettierung bricht. Die Flüssigkeit ist zur Hälfte aufg e braucht – diese völlig wirkungslose Arznei, zubereitet von e i nem Mann, der Willems und mein Vertrauen schamlos mis s braucht hat. Ich will daran glauben, dass es so ist.
Kurzerhand nehme ich Schwung und werfe das Fläschchen in den Kanal. Für die Dauer eines Atemzugs scheint es wie ein Glas splitter auf der Wasseroberfläche zu verharren, mit ihr zu verschmelzen. Dann sinkt es im Licht der aufgehenden Sonne in die Tiefe.
Es dauert mehrere Tage, bis ich Antwort von Frédéric erha l te. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich bereits damit abgefunden, dass er mir nicht antworten wird, ob nun aus Zeitmangel oder Desinteresse – ein Gedanke, der mir einen Stich versetzt. Als ich eines Morgens das Speisezimmer betrete, um zu frühst ü cken, erwartet mich ein Telegramm.
»Von einem Frédéric Gagnier«, sagt Adélaïde und drückt mir das zusammengefaltete Schreiben in die Hand, ohne mir Fr a gen zu stellen.
Nach dem Frühstück ziehe ich mich so schnell und unauffä l lig wie möglich in mein Zimmer zurück – ich will meine Tante nicht misstrauisch machen. Das Schreiben knistert, als ich es auseinanderfalte.
Léonide ,
erwarten Sie mich morgen Nachmittag gegen vier Uhr. Hoffe, Sie wohlauf anzutreffen . — Frédéric
Am nächsten Tag stürmt und regnet es . S chwarze und graue Gewitterwolken verschleiern den Himmel, Blitze schießen aus ihnen hervor und der Himmel wummert und dröhnt. Meine Tante und ich sitzen im Aufenthaltsraum, trinken Tee und la u schen dem Rauschen des Regens und dem Grollen des Do n ners, während immer wieder Blitze den Raum in blendendes Licht tauchen.
Ich frage mich, ob Frédéric sich bei diesem Wetter übe r haupt auf den Weg nach Beaucaire gemacht hat.
Meine Tante habe ich knapp über Frédérics Besuch in Kenntnis gesetzt. Als sie hörte, dass es sich bei ihm um Wi l lems früheren Arzt handelt, hat sie ohne Zögern angeboten, ihn für ein oder zwei Nächte im Gästezimmer unterzubringen. Davon abgesehen haben wir nicht über Frédéric gesprochen, worüber ich mehr als erleichtert bin. Obgleich ich es nicht mit Sicherheit weiß, spüre ich, warum das so ist, wage aber nicht, es mir einzugestehen oder auch nur daran zu denken.
Vier Uhr kommt und geht, ohne dass ein Besucher die Stille im Haus stört. Adélaïde sagt nichts, obgleich sie meine wac h sende Unruhe ohne jeden Zweifel spürt. Ich warte finge r trommelnd, doch gegen fünf Uhr ist Frédéric noch immer nicht aufgetaucht. Ich erhebe mich vom Klavierhocker, Beethovens Mondscheinsonate unterbrechend.
»Ich gehe aus«, sage ich und laufe in den Flur, um mir Stiefel und Mantel anzuziehen. Sie folgt mir.
»Léonide, es regnet in Strömen . «
Ich werfe mir meinen Schal um die Schultern. »Ich kann nicht warten. Was, wenn ihm etwas passiert ist?« Was, wenn er Costantini begegnet ist? Bei diesem Gedanken scheint das Fleisch unter meiner Haut zu gefrieren.
Adélaïde stößt einen resignierten Seufzer aus. »Du hast wir k lich die Sturheit und Unnachgiebigkeit deines Vaters geerbt. Gut, ich widerspreche nicht – es hat ohnehin keinen Sinn. Sieh nur zu, dass du dich nicht erkältest.«
Ich gebe vor, ihre Bemerkung über meinen Vater und mich überhört zu haben und reiße die Tür auf.
Vor mir auf dem Treppenabsatz steht Frédéric.
»Mademoiselle. Entschuldigung, ich bin viel zu spät.«
Die Kälte unter meiner Haut löst sich auf. Ich reiche ihm die Hand, und er streicht mit dem Daumen über meinen Handr ü cken, ehe er sie drückt.
»Sie sind ja nass bis auf die Knochen«, sage ich, als ich me i ne Fassung wiedergewonnen habe. Als wäre das nicht offe n sichtlich.
Und doch stimmt es . Von seinem dunklen Haar tropft der Regen, er hat sich sogar in seinen Augenbrauen und Wimpern verfangen.
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