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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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Geräuschen, die sich wie fremdartige, leuchtende Blüten vor meinem inneren Auge öf f nen. Sie kommt mir bekannt vor, diese Stimme, doch ich bekomme sie kaum zu fassen, sie entschlüpft mir immer wieder. Es ist, als würde sie vor mir fliehen.
    Komm, Léonide, folge mir, komm, komm , flüstert sie mir zu, und ich tue wie geheißen. Immer tiefer und tiefer dringe ich in das Haus vor. Die Korridore sind lang und dunkel, ein endloses, schwarzes Lab y rinth, von dem ich nicht weiß, wie ich hineingeraten bin und welcher Weg in sein Herz führt.
    Aus de n Augenwinkel n bemerke ich eine Gestalt, die nicht von meiner Seite weicht. Sie ist groß und dunkel, mit vollem Haar und ma r kanten Gesichtszügen, die von ungewöhnlicher Vitalität zeugen. Doch immer, wenn ich zur Seite blicke, verschwindet sie, und ich begreife, dass ich a l lein bin in der Finsternis.
    Allein …
    Vor einer großen, dunklen Tür halten meine Schritte inne. Als ich meine Hand auf die kalte Klinke lege, durchzuckt mich ein blendendes Licht wie ein kurzer, harter Schmerz. Aus den Tiefen des alten Hauses dringt ein Flüstern – ich spüre, ich bin hier nicht willkommen, ich werde beobachtet, ich sollte umkehren.
    Nimm den Schlüssel.
    Meine Augen finden den Haken rechts oben neben der Tür. Meine Hand greift nach dem Schlüssel, doch mein Verstand hält zögernd inne. Nein, das ist falsch, kehr um, geh zurück.
    Nimm den Schlüssel, Léonide.
    Das Metall brennt kalt in meiner Handfläche, als ich den Schlüssel vom Haken nehme, ihn ins Schloss stecke und ihn zweimal nach rechts drehe. Ich drücke die Klinke hinunter, die Tür öffnet sich knarrend.
    Aus dem Raum weht mir ein eisiger Wind entgegen, der einen abst o ßenden Geruch mit sich trägt. Ich rieche Alter und Fäulnis und Ve r wesung, dazu den Gestank von Ammoniak und Fäkalien. Trotz meiner Abneigung tragen meine Füße mich wie von selbst über die Schwelle, und ich erstarre. Der Schlüssel fällt mir aus der Hand und trifft mit einem singenden Geräusch auf dem Steinboden auf.
    In dem Raum sind mehrere glänzende Operationstische aufgestellt, doch sie sind nicht leer – auf den kalten Metallflächen liegen die nackten Leichname von Frauen und Männern. Neben einem der Tische steht eine männliche Gestalt und beugt sich über die dunkel behaarte Brust eines der Toten. Sie trägt einen weißen Kittel, ihre weißblonden Haare fallen ihr in ein Gesicht, das jungenhaft, blass und faltenlos wirkt, in ihrer Hand liegt ein silbern blitzendes Skalpell. Sie lässt die scharfe Klinge über die Brust des Mannes gleiten und teilt das blutende Fleisch.
    Aus dem Mund des Mannes dringt ein Schrei, der von den Wänden widerhallt und mir als brennender Schmerz in die Glieder fährt.
    Sie sind nicht tot, nein, sie sind nicht tot. Mit einem Mal erkenne ich die Anzeichen . Z itternde Augenlider und Lippen, benetzt mit Resten von Laudanum , mit Lederriemen gefesselte Arme und Beine; auf leeren T i schen und Regalbrettern abgestellte Schüsseln, die pochende Herzen, weiße Augäpfel und abgeschnittenes Haar in allen Schattieru n gen enthalten. Und dann das Blut, das in immer neuen Sturzbächen von den Metallfl ä chen auf den Boden fließt.
    Meine Beine knicken ein, und ich erbreche mich keuchend auf den B o den. Unter meinen Fingern vibriert kalt und blutbefleckt der Schlüssel.
    Obwohl ich die Gestalt nicht vor Augen habe, sehe ich, wie sie den Blick hebt. Ihr weißblondes Haar fällt ihr in die Stirn . D ie eisblauen A u gen sind auf mich gerichtet. Das Grauen, das mich erfasst, ist mit nichts zu vergleichen, das ich bisher durchgemacht habe. Es ist aussicht s los und schmerzhaft, als würde man in einen dun k len Malstrom gezogen, und man kann noch so sehr kämpfen und vers u chen, sich zu befreien, man weiß, früher oder später wird es einen besiegen und man wird ve r schluckt werden von der Dunkelheit, die unter der Wasseroberfläche schwebt. Das Einzige, was man tun kann, ist zu ho f fen, dass der Tod schnell und schmerzlos sein wird.
    Genauso weiß ich, dass ich sterben werde, hier in diesem Raum mit den blutenden Wänden.
    »Ah«, macht der junge Mann mit dem hellen Haar und den kalten Augen, und seine lockende Stimme verbindet sich mit dem Wimmern des Mannes auf dem Operationstisch. »Noch ein Körper, ein saftiger, lebe n diger Körper . Noch mehr Augen, Arme und Beine und Haar, alle e r füllt mit Leben . «
    Ich versuche, mich aufzurichten, doch das Blut auf dem Boden ist schmierig und noch warm,

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