Léonide (German Edition)
mo r gen auf den Weg machen«, sagt Herbert und nimmt einen Zug von seiner Pfeife. Der Rauch hüllt unsere Köpfe in dun s tige Schwaden. »Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht froh drum wäre. Meine Frau interessiert sich ja für nichts anderes mehr als für Sie. Mademoiselle Géroux hier, Mademoiselle Géroux da. Wird Zeit, dass sie sich wieder mehr um ihren a l ten Schrank von Mann kümmert.«
Georgette ignoriert Herbert und legt ihre Strickarbeit beise i te. Sie beugt sich in ihrem Stuhl nach vorn und drückt meine Hand. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Jeder Tag, der ve r streicht, ohne dass ich etwas tue, macht mich unruhig. Jede Sekunde, die ich in der warmen Stube sitze, raubt einen Teil meiner Geistesgegenwart. Ich habe Mühe, es mir einzugest e hen, doch nun komme ich nicht mehr umhin. Die lärmenden Stimmen in meinem Kopf, meine Nervosität: alles Zeichen dafür, dass ich den Halt in der Welt verliere, dass ich an einem Abgrund stehe und es nur einen Schritt braucht, um mich entweder in Sicherheit zu bringen oder zu fallen. Es ist derse l be Abgrund, vor dem auch Willem gestanden hat.
Komm zu mir, Léonide. Komm zu mir …
Ich spüre, dass ich den Verstand verliere.
Ich verlasse das Haus der Segals früh am nächsten Morgen. Noch immer leicht geschwächt, aber entschlossen, meine Re i se zu Ende zu bringen, verabschiede ich mich von Herbert und Georgette. Herbert gibt nur ein Brummen von sich, als ich ihm die Hand reiche, während Georgette mich umarmt, mir mein Gepäck und ein zusammengebundenes Stofftuch in die Hand drückt.
»Ich weiß, es ist nicht viel, aber ich kann Sie nicht ohne e t was zu essen gehen lassen. Passen Sie gut auf sich auf.«
Ich lächle. »Ich danke Ihnen. Für alles, was Sie für mich g e tan haben. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll. Ich habe nichts dabei, das ich Ihnen geben könnte.«
»Müssen Sie auch nicht«, murmelt Herbert. »Als gute Chri s ten war es unsere Pflicht, Sie aufzunehmen.«
Ich nicke überrascht. Gute Christen.
Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. Es ist gut, wieder unterwegs zu sein – als bliebe das Vergangene mit jedem Schritt ein Stückchen weiter hinter mir zurück. Zum ersten Mal seit Tagen ist mein Kopf ganz klar. Ich lebe, aber es gibt Dinge, die ich ordnen muss. Wird Frédéric mir verzeihen? Und spielt das überhaupt noch eine Rolle? Denn dass ich mich einem Ende nähere, das spüre ich. Wie auch immer es aussieht, ich weiß, dass sich alles fügen wird, ganz gleich, was passiert.
Meine Schritte führen mich tief ins weiße Kalksteinland – abseits der Pfade und jeglichen Menschenlebens. Der Wind pfeift durch die gezackten Felsritzen und reißt an meinem Mantel, der so heftig um meine Beine weht, dass ich Mühe habe, vorwärtszukommen. Die Sonne steht als orangeroter Ball am Himmel, in den vertrockneten Grasb ü scheln zirpen Zikaden. Ich bahne mir einen Weg über verfall e nes Mauerwerk und zerklüftete Gesteinsspitzen. Die Gegend erscheint mir vertraut. Obwohl das rasiermesserscharfe Gestein mir bei j e dem Schritt tief ins Fleisch schneidet, meine Handflächen mit Blut verklebt und zerkratzt sind, spüre ich keinen Schmerz.
Ich weiß nicht, wie lange ich die karge Gegend ziel- und ras t los durchquere. Es scheinen mehrere Stunden vergangen zu sein, obwohl sich die Landschaft nicht ve r ändert hat. Sie ist streng und hat sich im Lauf der Zeit und im Zuge des rauen Klimas verhärtet wie das Innere eines Me n schen, der keine Liebe e r fahren hat. Selbst die Pflanzen und die rissige Erde wirken starr, beide kämpfen sie ununterbr o chen gegen den peitsche n den Wind.
Mit der Zeit werden meine Schritte langsamer. Das Gepäck wiegt schwer in meinen Händen, die Anstrengung und die Sonne lassen Körper und Geist erlahmen, ein Gefühl zw i schen Wachen und Schlafen, ruhelos und doch en t spannt.
Dann bemerke ich die Höhle, die versteckt zwischen zwei Felserhebungen liegt und deren Öffnung wie das scharfzahn i ge Maul eines Raubtiers aussieht. Plötzlich erinnere ich mich an meinen Traum. La G rotte des É chos . Die Höhle der Echos.
Wie in Trance taste ich mich über die scharfen Kanten der Felsen, nur am Rande nehme ich wahr, dass warmes Blut von meinen Fingern tropft. Dann stehe ich im Schatten des Hö h leneingangs, schwach beleuchtet von ein paar verirrten So n nenstrahlen. Der Geruch von Asche, Holz und Lavendel. Kühler, feuchter Stein.
Wie in einem Traum. Wie in
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