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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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habe, Platz ne h men, ist es schon spät . T ief hängende Wolken und Duns t schleier ziehen über den Himmel, die Dunkelheit kratzt an den verschlossenen Fensterläden und bittet um Ei n lass. Herbert vertreibt sie, indem er mehrere Gaslampen en t zündet, die den Raum in warmes Licht tauchen. So sitzen wir um den vernar b ten Holztisch, essen Gemüseeintopf und tri n ken Dünnbier. Kräuselnder Dampf steigt aus der Terrine mit dem Eintopf. Wir sprechen nur wenig, doch keinen von uns stört die Stille. Durch die Fensterläden dringen der Schrei e i nes Käuzchens und die Gesänge der wenigen Zikaden, die sich noch nicht vom kühler werdenden Herbstwetter haben vertreiben lassen.
    Nach dem Essen räumen Georgette und ich den Tisch ab und säubern das Geschirr in einem Holzbottich. Während Georgette die Teller mit einem Lappen und Wasser wischt und ich sie mit einem trockenen Tuch bearbeite, erzählt sie mir von ihrer Kindheit und der Arbeit, die sie bereits als kleines Mä d chen hat verrichten müssen. Mehrmals lacht sie laut auf, und obwohl ich die Geschichte im Großen und Ganzen eher tra u rig als amüsant finde, klingt sie nicht verbittert. Georgette a r beitet im Freien, seit sie acht ist; sie ist nie zur Schule gega n gen, immer hing ihr Leben vom Ausfallen der Ernte im Herbst ab. Ihre Eltern starben infolge von Entkräftung und schwerer Krankheit, als sie gerade erst vierzehn war. Der Wi n ter war in jenem Jahr besonders lang und hart, die Ernte im Herbst schlecht ausgefallen. Die Familie litt Hunger und es fehlte an Feuerholz. Eines Morgens fand Georgette ihre E l tern tot in ihrem Bett, in den Augen ein Ausdruck des Ku m mers. Georgette war auf sich allein gestellt. Sie verließ das Dorf, in dem sie geboren worden war – der winzige Verschlag, in dem sie mit ihren Eltern gelebt hatte, gehörte ihr nicht lä n ger. In Les Baux fand sie Zuflucht bei einem Bauern, der sie bei sich aufnahm und für den sie im Gegenzug arbeitete. Er hatte einen Sohn namens Herbert, die wohl einzige glückliche Fügung in ihrem Leben. Georgette heiratete Herbert, seitdem haben sie ihre eigene, kleine Bleibe. Um sich das Haus leisten zu können, bieten sie ihre Waren auf dem Wochenmarkt feil: Kartoffeln, Gemüse, Strümpfe und Schals, die Georgette in jeder freien Minute, die sie nicht mit Waschen, Kochen oder Ernten verbringt, strickt.
    Sie schaffen es gerade so, sich über Wasser zu halten, doch der Preis dafür ist ein Leben voller Arbeit, ohne die Zeit, ein Buch zu lesen, ein Instrument zu spielen oder auch nur zu le r nen, dergleichen zu tun. Beide können weder lesen noch schreiben, doch für ›Leute ihres Schlags‹ , wie mein Vater sie vermutlich nennen würde, sind ihre Worte ungewöhnlich g e wählt und sogar vornehm. Gerade Georgette bemüht sich um ein höfliches Auftreten, ich werde das Gefühl nicht los, dass das an mir liegt. Sie ahnt nicht, welchen Preis ich für ein Leben in Sicherheit habe zahlen müssen – nein, muss – und wie schnell es einen den Halt verlieren lässt, sobald etwas Unvo r hergesehenes geschieht. Es schützt nicht vor Leid und Schic k salsschlägen.
    Nachdem der Abwasch erledigt ist, setzen wir uns in die Stube. Während Georgette strickt und Herbert in seinem Se s sel sitzt und Pfeife raucht, fragen sie mich aus. Besonders ne u gierig sind sie darauf, zu erfahren, warum ich allein in Les Baux unterwegs war. Ich, die ich nicht an Schwierigkeiten g e wöhnt bin – zumindest scheinen sie das zu denken, so fern ich ihre Worte und die Blicke, die sie mir zuwerfen, richtig deute.
    »Ich lebe in Arles«, erzähle ich, während ich überlege, wie viel ich den beiden anvertrauen kann. Ganz sicher werde ich nicht über meinen Bruder oder Costantini sprechen. »Ich war mit einem Freund in der Gegend unterwegs, aber ich … ich habe ihn verloren.«
    Ungläubig Herberts Stimme: »Verloren?«
    »Aber«, fügt Georgette hinzu, »er wird sich Sorgen um Sie machen.«
    Ich nicke. »Deshalb muss ich schnellstmöglich weiterreisen – um ihn zu finden. Es gibt Dinge, die ich geradebiegen muss. Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht.«
    Georgette und Herbert werfen sich einen raschen Blick zu, sagen aber nichts. Sie spüren, dass ich nicht gern über meinen ›Freund‹ und die Dinge, die sich zwischen uns abgespielt h a ben, spreche und wechseln hastig das Thema. Ich frage mich, wie viel sie wohl ahnen von dem, was ungesagt geblieben ist.
    »Ich denke, dann wird es das Beste sein, wenn Sie sich

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