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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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deinem Traum.
    Die Höhle ist leer, trotzdem warnt mich eine innere Stimme davor, sie zu betreten. Ich ignoriere sie, mache langsam einen Schritt, dann noch einen. Mein Zögern verwandelt sich in freudige Erwartung. Jemand hat getrocknete Piniennadeln auf dem schroffen Höhlenboden verteilt. Staubkörner tanzen im Licht.
    Die Höhle ist voller Augen, voller rot geädert er Augäpfel, die in ihren Höhlen aus Gestein kreisen und mich beobachten. Wo ist die Iris? Wo die Farbe in ihrem Blick?
    Eisblumen auf meinem Körper, eine Bewegung unter me i ner Haut. Ich weiche zurück, bis ich die Höhlenwand im R ü cken habe. Lasse mein Gepäck fallen und setze mich auf den Höhlenboden, schließe die Augen und lasse zu, dass Dunke l heit meine Gedanken und das Feuer in meiner Seele erstickt.
    Als ich wieder zu mir komme, weiß ich nicht, wie viel Zeit verstrichen ist. D ie Erinnerung an das Geschehene lässt mich auf springe n . Meine Augen brauchen einen Moment , um sich an das schwache Licht zu gewöhnen und die schwarzen Pun k te, die in meinem Blickfeld tanzen, zu vertre i ben.
    Keine Augen, nur schwarze, zerklüftete Höhlenwände. Sie beobachten mich nicht, haben keine Augen, keine einzige, blicklose Iris.
    »Ich verliere den Verstand«, flüstere ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Für einen Augenblick glaube ich, dass die Finsternis mir mit einem sehnsüchtigen Flüstern antwortet.
    Aber du bist allein , wispert Costantini mit papierner Stimme . W arst es immer und wirst es bleiben. Die Menschen sind einsame Wesen – au s gesetzt und dann vergessen, verlorene Seelen in einem Universum, das sie einst liebte und ihnen dann den Rücken zugekehrt hat. Geburt, Leben, Sterben – ein Kreislauf, der in Einsamkeit beginnt und ebenso endet.
    Nein . Allein ist man erst, wenn man sich anderen verweigert. Wenn die Seele eine Hornhaut bekommt. Niemand ist von Natur aus allein, jeder einsame Mensch macht sich selbst einsam, indem er sich zurückzieht wie eine Muschel, die sich verschließt, um ihren Kern vor der Außenwelt zu schützen – weil sie Angst hat, die anderen könnten ihr ihren Schatz nehmen oder ihn beschmutzen. Was aber ist das Innere ohne Schmutz? Wenn man sich verweigert, wird irgendwann niemand mehr da sein, der Interesse an dem Kern hat. Warum also nicht die Fenster aufreißen, um frische Luft hereinzulassen?
    Costantini lacht. In meinen Ohren ist ein Rauschen, das sich in einem tiefen Echo auflöst. Costantini ist verschwunden.
    Es gibt nichts Erschreckenderes als die Tatsache, dass ich meine Gedanken gegen meinen Willen mit meinem Feind te i len muss. Dass ich ihm ausgeliefert bin und er mich manipuli e ren kann. Er hat sich wie ein Parasit in mir eingenistet.
    »Léonide?«
    Ich fahre zusammen, meine Hände ballen sich zu Fäusten. Das getrocknete Blut spannt auf meiner Haut. Die Stimme, die die Höhle erfüllt, ist nicht Willems Stimme wie in meinem Traum, sondern Frédérics. Ich wirble auf dem Absatz herum in der Erwartung, dass sie sich als Halluzination entpuppt. Ich weiß, meine Sehnsucht zeigt mir Dinge, die nicht real sind – wie eine Verdurstende stehe ich vor einer Fata Morgana und fürchte, sie könnte sich jeden Moment vor meinen Augen in Luft auflösen. Dennoch: Ich kann die Hoffnung nicht aus meinen Gedanken vertreiben.
    »Frédéric.«
    Da steht er, die Kleidung derangiert, die Haare wirr, das G e sicht müde. Kein seltsames Mischwesen, das einen Verband über einem tiefblauen Auge trägt und eine Stimme hat, die mich an Verlust denken lässt. Obwohl er erschöpft wirkt, habe ich noch nie einen so schönen Menschen gesehen.
    Die Zeit scheint stillzustehen, da ist nichts als ein Gefühl, das mich in seine Richtung zieht und eine Angst, die mir g e nau das verbietet. Was, wenn er mich nicht mehr will? Wird er zurückweichen, mir erklären, dass sich die Dinge verä n dert haben?
    Seine Augen sind zwei blanke, schwarze Murmeln, in denen sich die Verletzung spiegelt, die ich ihm zugefügt habe, doch um seinen Mund liegt ein weicher, sehnsuchtsvoller Ausdruck. Er ist es, der mich die Grenze zwischen uns überschreiten lässt. Ich sinke in seine Arme, er begegnet mir verwundert, ehe er meinen Scheitel, meine Schläfen, meine Augenlider, meine Mundwinkel küsst. Seine verkrampften Hände halten mich so fest, dass es schmerzt, er drängt mich an sich, Bewegungen, die Erschöpfung atmen und ihn beinahe unbeherrscht wirken lassen. Nachgiebige, spröde Lippen.
    Träume ich? Ist es real?
    Als

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