Léonide (German Edition)
Verlassenheit mich überhaupt erst in den Wald getrieben hat.
»Du hättest sterben können!« Frédérics Kiefer sind ang e spannt, seine Augen merkwürdig leer – blicklos, ohne jede Sehkraft. Er reibt sich übers Gesicht.
»Hör auf damit.« Ich nehme seine Hand. Frédérics zuvor in weite Ferne gerichteter Blick trifft meinen und entzündet sich daran.
»Ich bin nicht gestorben«, sage ich. »All das ist vorbei, es hat keinen Sinn, sich Vorwürfe zu machen. Wir haben beide Fe h ler gemacht, aber wir haben uns verziehen. Oder nicht?«
Frédéric nickt langsam. »Verziehen«, wiederholt er. »Ich nehme an, so ist es.«
Ich weiß nicht, wie lange wir so daliegen, bis nicht einmal mehr unsere Körperwärme ausreicht, um die Kälte zu vertre i ben. Der Himmel hat inzwischen ein tiefes Schwarz ang e nommen, die Sterne sind erloschen.
Langsam erwachen wir aus unserer Starre und ziehen uns an. Dann essen wir von dem, was Georgette mir am Morgen ei n gepackt hat: Baguette, Käse und zwei Äpfel. Erst, als ich den ersten Bissen zu mir nehme, merke ich, wie groß mein Hunger ist.
Das Brot ist weich, der Käse hart und würzig, die Äpfel ve r schrumpelt, aber süß. Merkwürdig, dass ich mich hier, in der Finsternis der Höhle, so wohl fühle, dass das Wissen um Costantinis lauernde Stimme mich nicht länger beunruhigt. Vie l leicht liegt es an meinem erschöpften Gemüt, vielleicht auch an dem Gefühl von Geborgenheit, das Frédéric au s strahlt.
»Lass uns ein paar Tage ans Meer fahren«, sage ich in die dunkle, tropfende Stille hinein. »Ich glaube, es würde mich wieder gesund machen. Ich sehne mich so nach dem Salzg e ruch der Gischt.«
Frédéric nickt, und auf seinen Lippen erscheint jenes selbs t gefällige Lächeln, das ich schon von ihm kenne und mehr als alles andere vermisst habe. Es ist so einfach.
»Ans Meer«, flüstere ich und habe den Eindruck, bereits jetzt das Rauschen der Meereswellen und die Art, wie sie sich an den Klippen brechen und schäumend ans sandige Ufer treten, hören zu können. Ich lächle, etwas, das ich schon lange nicht mehr getan habe. »Ans Meer, und danach nach Hause.«
Frédéric betrachtet mich fast fragend, als ob er nicht genau wüsste, ob ich wirklich an ein Zuhause glaube. Dann aber wi e derholt er zustimmend: »Nach Hause.«
Und so warten wir auf den Anbruch des Tages. Als schlie ß lich die ersten rot gefärbten Wolken hinter der Chaîne des Alpi l les hervortreten, stehen wir auf und klopften uns den Schmutz von der Kleidung. Dann raffen wir unsere Sachen zusammen und verlassen die Höhle, dem Morgengrauen und dem So n nenaufgang entgegen.
Nachtcafé
Cassis, Oktober 1888
C
assis ist auch ohne die Nähe zum Meer eine der schönsten Städte Südfrankreichs, zumindest heißt es das. Sie liegt in einer Bucht der Calanque-Küste. Charakteristisch sind der tr o ckene Wind, die steil abfallenden Weinberge und der helle Kalkstein. Wenn man den kleinen sandigen Wegen und Sträßchen folgt, die aus dem Ort hinau s führen, erhascht man mitunter einen Blick aufs Meer.
Das Wetter in Cassis ist rau und windig, was sich auch in der Vegetation widerspiegelt. Trockener, rissiger Boden, der sich wie Falten ins Antlitz des Landes gräbt; Weinberge mit robu s ten Rebsorten; immergrüne, dornige Gebüschformationen. Hitze. Salz.
Es ist eine beeindruckende Stadt: eng aneinandergedrängte Häuser, die in unmittelbarer Nähe zum Wasser gebaut sind; der Hafen mit seinem Leuchtturm und den weiß bemalten Schiffen, die auf den Wellen schaukeln; Schwärme von M ö wen, die über der Stadt kreisen und deren Schreie von früh bis spät zu hören sind; und nicht zuletzt die weißen, scharf g e zackten Felslinien, die über allem thronen. Überall riecht es nach Fisch und Meeresfrüchten, die auf den Märkten und an den zahlreichen Ständen der Fischer feilgeboten werden. Und dann die Farben: strahlendes Weiß, das helle Beige des Kal k gesteins, die lavendelblauen Fensterläden, die dunklen F i schernetze, die zum Trocknen auf den Booten oder an den Anlegeplätzen liegen, all die roten, grünen und gelben Far b tupfer, die orangefarbene Sonne.
Willem wäre von Cassis begeistert gewesen.
Inmitten der Stadt, hoch erhoben über dem zentralen Platz, liegt auf einer felsigen, von dunklen Zypressen eingerahmten Hügelkuppe das verfallene Château aus dem vierzehnten Jah r hundert. Ich bestaune auch das prächtige Hôtel de Ville und die Kirche Saint-Michel, das Fischereigericht
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