Léonide (German Edition)
er mich zum ersten Mal – urplötzlich hat sich das Licht um mich herum verändert und fällt in einem anderen Winkel auf mich, ich erscheine buc h stäblich in einem anderen Licht , und vielleicht zum ersten Mal sieht er den Teil von mir, den außer mir selbst nur Willem g e kannt hat.
»Ich hätte wissen müssen, dass es dir nichts ausmachen wü r de. Trotzdem bin ich froh darüber, es dir gesagt zu haben.«
»Das bin ich auch. Darüber, dass du ehrlich zu mir bist.«
Die Schatten werden länger, hinter der schmalen, undeutl i chen Linie, die Meer und Himmel trennt, versinkt die scha r lachrote Sonne. Einen Augenblick lang spiegelt sie sich noch auf der unruhigen Wasseroberfläche, dann überschreitet sie die Grenze zur Nacht und verschwindet im Meer. Lavende l blau, samtenes Blauschwarz.
»Willst du mir von ihr erzählen?«, frage ich.
Frédéric lässt sich seufzend in den Sand zurücksinken, der noch immer die Wärme der Sonne in sich trägt. Einen M o ment später liege ich neben ih m .
»Sie hieß Camille Archambault«, beginnt Frédéric, in die Vergangenheit und seine Erinnerungen eintauchend. Ich stelle mir vor, dass er dort ihr Gesicht sieht und spüre trotz all me i ner Beteuerungen den Stachel der Eifersucht.
»Als wir uns verliebten, war sie siebzehn, ich neunzehn. Ich hatte gerade mit meinem Medizinstudium an der Sorbonne b e gonnen. Sie und ich lernten uns auf einem der Feste ke n nen, die einer meiner Professoren – ein Monsieur Klein aus Deutschland – regelmäßig gab. Sie war seine uneheliche Toc h ter und trug den Namen ihrer französischen Mutter. D a mals war sie für mich das schönste Mädchen, das ich je gesehen ha t te.«
Er wirft mir einen Blick zu, der v ieles bedeuten kann. Dann streckt er die Hand aus und streicht mir über die Wange, ganz kurz nur und so leicht, dass meine Haut die Berührung nur erahnen kann. Ich weiß, was er sagen will und schüttle den Kopf, damit er es nicht tut. Damals war sie für mich das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Damals. Nicht jetzt – nicht in diesem Augenblick.
»Viele meiner Kommilitonen fanden sie seltsam. Die Art, wie sie sprach – offen und unangepasst – erschien denen, die ihr begegneten, unangebracht und indiskret. Mir allerdings g e fiel sie, diese geradezu provozierende Koketterie und der scharfe Intellekt, den sie an den Tag legte. Ich begriff nicht, dass sie mit mir spielte – ein Spiel spielte, in dem sie den Ton angab und das ihr nichts bedeutete. Ich war blind vor Ve r liebtheit.«
Frédéric stößt unbeherrscht die Luft aus. Lässt Sand durch seine Finger rieseln. Zeit. So viel Zeit, die vergangen ist … die noch vor uns liegt.
Die Zeit vergeht schneller, als du denkst.
»Als ich nur einen Monat nach unserer ersten Begegnung um ihre Hand anhielt, willigte sie ein. Zuvor hatte Professor Klein mir seine Zustimmung erteilt. Als ich sie meinen Eltern vo r stellte, war ich davon überzeugt, dass sie sie lieben würden – lieben mussten , so wie ich sie liebte.
Das Leben ist seltsam. Es führt einen auf Abwege und in Sackgassen, manchmal verschlingt es einen sogar mit Haut und Haar. Meine Mutter verabscheute Camilles Zwanglosi g keit, ihr lautes Lachen, die Art, wie sie aß und trank. Mein V a ter sah in ihr nichts von der Intelligenz, die ich wahrgeno m men hatte. Er hielt sie für gewöhnlich und hielt ihr vor, mich von meinem Studium abzulenken. Weder er noch meine Mu t ter konnten ihre Herkunft akzeptieren. Die uneheliche Tochter einer Französin und eines deutschen Professors, der sie nur bei sich aufgenommen hatte, weil ihre Mutter verstorben war und sie von da an kein Zuhause mehr hatte.«
Frédéric verstummt, seine heisere Stimme nicht mehr als ein Echo in der Nacht. Ich liege reglos auf dem kühler werdenden Sand und fühle seine Traurigkeit.
»Natürlich hielten sie nichts von meinem Vorhaben, Camille zu heiraten. Mein Vater wollte mir die Hochzeit sogar verbi e ten. Als ich mich weigerte, seinem Wunsch Folge zu leisten, enterbte er mich.«
»Er … Das hat er getan?«
Frédéric nickt nicht einmal. Plötzlich finde ich die Stille nicht mehr vertraulich, sondern unheimlich.
»Was ist dann passiert?«
»Was passieren musste: Ich versprach, sie zu heiraten, mir e i ne Arbeit zu suchen und für sie zu sorgen. Ich war bereit, mein Studium für sie aufzugeben. Ich brach den Kontakt zu meinen Eltern ab, ließ diesen Abschnitt meines Lebens hinter mir. Sie zog vorübergehend zu mir, in das
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