Léonide (German Edition)
Dachzimmer , das ich damals bewohnte – ein Zimmer in einem der unzähligen g e sichtslosen Häuser von Paris.«
Er macht eine Pause, den Blick wieder aufs Meer geric h tet.
»In der Nacht vor unserer Hochzeit fand ich sie nackt in meinem Bett, nicht allein, versteht sich. In diesem Augenblick empfand ich nichts als Hass gegen mich selbst – Hass, weil ich so dumm gewesen war, mich in sie zu verlieben, obwohl ich hätte wissen müssen, dass sie zu keiner Liebe fähig war. Die Geschichte ist alt wie das Leben selbst: Der betrogene Mann, der dafür bestraft wird, die Falsche geliebt zu haben. Trotzdem konnte ich sie nicht hassen und auch ihn nicht. Ich empfand nicht einmal Wut.«
»Was hast du getan?«
Frédéric schnaubt. »Was der Traurige tut, der noch nicht b e reit ist, zu sterben: Ich versuchte, in mein altes Leben zurüc k zufinden, ein Leben, in dem ich sie nicht gekannt, nichts von ihrer Existenz geahnt hatte. Ich machte weiter. Neben dem Studium arbeitete ich, die Unterstützung meiner Eltern hatte ich ja verloren. Ich schloss mein Medizinstudium ab. Ich wu r de Arzt. Als mein Vater starb, erbte ich nichts. Ich habe ihn und meine Mutter nie wieder gesehen.«
Als ich von einem Windstoß erfasst werde, schaudere ich und vergrabe meine Hände tiefer im Sand. »Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte.«
Er schüttelt langsam den Kopf, den Blick in den dunklen Himmel gerichtet, wo der Mond und die ersten Sterne aufg e hen. Ihr Licht sickert über den Himmel wie Farbe über ein Laken.
»Mehrere Monate lebte ich mein Leben, als wäre nichts g e schehen, aber ich blickte häufig zurück auf das, was ich verl o ren und hinter mir gelassen hatte. Ich meine nicht nur meine Liebe zu Camille; ich meine auch die zu meinen Eltern.«
Eine Erinnerung nagt an mir, sachte, aber bestimmt. Wissen Sie, wie es ist, einsam zu sein? Wissen Sie, was es bedeutet, das eigene Leben und alle Menschen darin aufzugeben, um später zu merken, dass man das, was man einmal hatte, nicht aufs Spiel hätte setzen dürfen? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, alles zu verlieren – alles, bis auf das eigene Leben?
Ich begreife jetzt, dass Frédéric diese Worte niemals nur auf mich bezogen hat; dass er sich das Geschehene nicht verze i hen kann und es ihn nach all den Jahren noch immer verfolgt. Er hat nichts anderes getan, als mich zu warnen, weil seine eigenen Erfahrungen ihn dazu gezwungen haben. Er wollte verhindern, dass mir dasselbe widerfährt wie ihm damals.
»Eines Tages – ich hatte Camille seit Monaten nicht mehr gesehen und auch nichts von ihr gehört – stand ein Mann vor meiner Tür, in dem ich jenen jungen Mann erkannte, mit dem Camille mich be trogen hatte. Er nannte mir seinen Namen – Edmond Joubert – und flehte mich an, ihm zuzuhören, bevor ich ihn fortschickte. Als ich ihn sah, brach sich meine Wut zum ersten Mal seit Monaten Bahn. Ich gebe zu, in diesem Augenblick hätte ich töten können. Aber ich beherrschte mich und er erzählte mir, dass Camille an Syphilis erkrankt sei. N a türlich hatten weder ich noch er sie angesteckt, und mit einem Mal empfand ich Mitleid – er hat te dasselbe durchgemacht wie ich und ließ sie trotzdem nicht im Stich. Ohne zu zögern e r klärte er mir, dass weder er noch sie Geld für eine Behandlung hätten. Ich sei ihre letzte Hoffnung. Ich fragte mich, warum er das tat – warum er versuchte, ihr zu helfen, obwohl sie ihn betrogen hatte. Doch im Grunde war es ganz einfach: Er lie b te sie noch immer und hatte ihr verziehen.«
Frédérics Augen suchen meine. »Ich verstand nichts von der Liebe«, fährt er fort, »und frage mich oft, ob sich das seitdem verändert hat. Für mich waren Liebe und Verzeihen zwei u n terschiedliche Dinge, die nicht zusammengehörten. Ich ha t te gelernt, dass Liebe etwas Absolutes war und jederzeit in Hass umschlagen konnte – für mich bot sie keinen Raum für ko m plexe G e fühle wie die Sehnsucht nach Vergebung.
Ich tat, worum Edmond mich gebeten hatte. Als wir den Verschlag erreichten, in dem Camille mit ihm zusammen lebte, war ich außer mir. Alles starrte vor Schmutz, die Wände, der Boden, selbst die Laken auf dem Bett. Dort lag sie, reglos wie eine Tote … «
Das Zimmer ist nicht mehr als eine Höhle ohne Licht. An den Wä n den sehe ich Spuren von Ruß und Fliegenkot, es riecht nach Salz, Metall und Blut, verdorbenem Essen, Urin und Fäkalien. In dem stickigen Raum verbinden sich die Gerüche zu einem Übelkeit e r
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