Leopard
Morgens war ich dann als Erster wach, das bin ich in der Regel immer, und war schon weg, als die anderen aufgestanden sind.«
»Sie sagen, Sie wären abends erst spät gekommen? Dann sind Sie alleine im Dunkeln durch das Gebirge gelaufen?«
»Stirnlampe, Karte und Kompass. Ich habe diese Tour ganz spontan unternommen und bin erst abends in Ustaoset angekommen. Aber ich kenne mich, wie gesagt, aus und bin es gewohnt, mich draußen im Dunkeln zu orientieren. Und das Wetter war gut, Mondschein und Schnee, da brauchte ich weder Karte noch Lampe.«
»Können Sie mir sagen, was in der Hütte passiert ist, während Sie da waren?«
»Nichts, da ist nichts passiert. Ich habe mit Marit Olsen über Wein geredet und dann über die Schwierigkeiten, eine moderne Beziehung am Leben zu erhalten. Wobei ich glaube, dass ihre Beziehung moderner war als meine.«
»Und sie hat auch nicht erwähnt, dass irgendetwas in der Hütte vorgefallen ist?«
»Mit keinem Wort.«
»Was ist mit den anderen, die dort waren?«
»Die saßen am Kamin, redeten über Skitouren und tranken. Bier, glaube ich. Oder irgend so ein Elektrolytgetränk. Zwei junge Frauen und ein Typ so zwischen zwanzig und fünfunddreißig, würde ich tippen.«
»Namen?«
»Wir haben uns nur zugenickt und hallo gesagt. Aber ich wollte ja auch in die Berge, um allein zu sein, und nicht, um neue Freunde zu finden.«
»Wie sahen die anderen aus?«
»Es ist abends ziemlich dunkel in diesen Hütten. Ich könnte sagen, dass eine blond und die andere dunkel war, aber ich bin mir wirklich nicht sicher, ob das stimmt. Ich weiß ja nicht einmal mehr, ob sie zu dritt oder zu viert waren.«
»Dialekte?«
»Eine der Frauen hatte einen Vestlandsdialekt, glaube ich.«
»Stavanger? Bergen, Sunnmore?«
»Tut mir leid, so gut kenne ich mich damit nicht aus. Vielleicht war es auch gar nicht Vestland, sondern eher Sorland.«
»Okay. Sie wollten allein sein, haben aber trotzdem mit Marit Olsen über Beziehungen gesprochen?«
»Das hat sich einfach so ergeben. Sie hat sich zu mir gesetzt. Schüchtern war die nicht gerade. Redselig. Aber dick und nett.«
Er sagte es so, als gehörten diese beiden Eigenschaften zueinander. Harry kam in den Sinn, dass das Bild, das er von Lene Galtung gesehen hatte, eine – am neuen, norwegischen Durchschnittsgewicht gemessen – klapperdürre Frau zeigte.
»Abgesehen von Marit Olsen können Sie uns also über keinen der anderen etwas sagen? Auch nicht, wenn ich Ihnen Bilder von den Leuten zeige, von denen wir wissen, dass sie da waren?«
»Doch«, sagte Leike und lächelte wieder. »Ich glaube, das kann ich.«
»Ach ja?«
»Als ich in einem der Zimmer ins Bett gehen wollte, musste ich ja das Licht anmachen, um zu überprüfen, welches Bett noch frei war. Und da habe ich zwei schlafende Personen gesehen. Einen Mann und eine Frau.«
»Und die können Sie beschreiben?«
»Vielleicht nicht beschreiben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie wiedererkennen würde.«
»Ach9«
»Man erinnert sich oft erst an Gesichter, wenn man die Leute wiedersieht.«
Harry wusste, dass Leike recht hatte. Viele Zeugenaussagen waren unbrauchbar, aber gab man ihnen einen Anhaltspunkt, täuschten sie sich selten.
Harry trat an den Archivschrank, den sie zurückgeschoben hatten, öffnete die Mappen der entsprechenden Opfer und nahm die Bilder heraus. Er reichte Leike die fünf Bilder, der sie durchblätterte.
»Das ist Marit Olsen«, sagte er und gab Harry das Bild zurück. »Und das sind, glaube ich, die beiden Mädchen, die am Kamin gesessen haben, aber ganz sicher bin ich mir nicht.« Er gab Harry die Bilder von Borgny und Charlotte. »Das könnte der Mann sein.« Elias Skog. »Aber die im Schlafzimmer sind nicht auf diesen Bildern, da bin ich mir ganz sicher.«
»Sie sind sich nicht sicher bei den Leuten, die mit Ihnen im selben Raum gesessen haben, wohl aber bei denen, die Sie nur ein paar Sekunden lang gesehen haben?«
Leike nickt. »Die haben ja geschlafen.«
»Sind Schlafende leichter zu erkennen?«
»Nein, aber die erwidern Ihren Blick nicht, die kann man ungestört betrachten.«
»Hm. Ein paar Sekunden?«
»Vielleicht auch länger.«
Harry legte die Bilder zurück in die Mappe.
»Haben Sie irgendwelche Namen?«, fragte Leike.
»Namen?«
»Ja. Ich bin ja, wie gesagt, als Erster aufgestanden und habe in der Küche ein paar Scheiben Brot gegessen. Da lag das Gästebuch, in das ich mich noch nicht eingetragen hatte. Ich habe es aufgeschlagen
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