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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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etwas Schnee in den offenen Mund. Kaute, öffnete ihn wieder und ließ das geschmolzene Wasser herauslaufen. Als seine Nasenlöcher sich mit Wasser füllten, kriegte er einen neuen Panikschub und zuckte heftig zusammen. Schloss den Mund und blies das Wasser mit der Restluft aus seinen Lungen heraus. Bald würde er sterben. Das Wasser hatte ihm aber verraten, dass er kopfüber im Schnee lag, und das Zucken, dass es offensichtlich doch Raum für kleinere Bewegungen gab. Er probierte es noch einmal, spannte alle Muskeln in seinem Körper an und spürte, wie der Schnee ein wenig nachgab. Genug, um den Würgegriff des Panzerherzens zu lockern? Er holte Luft. Bekam auch etwas. Nicht genug. Das Gehirn schien schon mit Sauerstoff unterversorgt zu sein, trotzdem erinnerte er sich glasklar an die Worte seines Vaters bei den Osterausflügen nach Lesja. Dass man in einer Lawine, in der man noch etwas Luft hatte, nicht an Sauerstoffmangel, sondern an zu viel C02 im Blut starb. Seine andere Hand stieß gegen etwas Hartes, das sich wie ein Drahtnetz anfühlte. Unterm Schnee bist du wie ein Hai, du stirbst, wenn du dich nicht bewegst. Selbst wenn der Schnee locker genug ist und etwas Sauerstoff durchlässt, wird die Wärme deines Atems und deines Körpers schnell eine hermetisch abgeschlossene Eisschicht um dich herum bilden, so dass kein Sauerstoff mehr eindringen und das giftige Kohlendioxid aus deinem eigenen Atem nicht mehr entweichen kann. Du produzierst schlicht und einfach deinen eigenen Eissarg. Verstehst du?
    »Ja, Papa, entspann dich. Wir sind hier in Lesja, nicht auf dem Himalaya.« Das Lachen seiner Mutter aus der Küche.
    Harry wusste, dass die Hütte mit Schnee gefüllt war. Über ihm war ein Dach. Und über diesem Dach lag aller Wahrscheinlichkeit noch mehr Schnee. Es gab keinen Weg hinaus. Die Zeit tickte. Hier war alles zu Ende.
    Er hatte gebetet, nicht wieder aufzuwachen. Hatte sich inständig gewünscht, die nächste Bewusstlosigkeit wäre die letzte. Er hing kopfüber. Sein Kopf dröhnte und drohte zu platzen.
    Das Geräusch des Schneescooters hatte ihn geweckt.
    Er versuchte, sich möglichst nicht zu bewegen. Anfangs hatte er das noch getan, hatte geruckt, die Muskeln angespannt und sich zu befreien versucht. Aber bald hatte er den Versuch aufgegeben. Nicht wegen der Fleischhaken in den Waden, er hatte längst jegliches Gefühl in den Beinen verloren, sondern wegen des Geräusches. Dem Laut zerreißenden Gewebes, der zerberstenden Sehnen und Muskeln, wenn er sich hin und her wand und an der klirrenden Kette ruckte, die unter dem Dach des Vorratshauses befestigt war.
    Er starrte in den gebrochenen Blick eines Hirsches, der an den Hinterbeinen neben ihm hing. Es sah aus, als wäre er mitten im Sprung mit dem Geweih voran eingefroren. Er hatte ihn gewildert. Mit demselben Gewehr, mit dem er einst sie getötet hatte.
    Dann hörte er das klagende Knirschen von Schritten im Schnee. Die Tür ging auf, Mondlicht fiel herein. Er war also wieder da. Der Geist. Merkwürdig nur, dass er sich erst jetzt, da er ihn verkehrt herum sah, sicher war.
    »Du bist es wirklich«, zischelte er. Es war ein seltsames Gefühl, ohne Schneidezähne zu sprechen. »Du bist es wirklich. Oder?«
    Der Mann ging um ihn herum, knotete seine auf dem Rücken zusammengebundenen Hände auf.
    »K… Kannst du mir verzeihen, mein Junge?«
    »Hast du Lust, eine Reise zu machen?«
    »Du hast sie alle umgebracht, oder?«
    »Ja«, sagte er. »Gehen wir.«
    Harry grub mit der rechten Hand. Auf die linke zu, die an ein Drahtnetz gedrückt war, von dem er nicht wusste, was es war. Ein Teil seines Gehirns teilte ihm mit, dass er gefangen war, dass er einen hoffnungslosen Kampf gegen die Sekunden kämpfte und jeder Atemzug ihn dem Tod näher brachte. Dass alles, was er tat, nur das Leiden verlängerte, das Unausweichliche hinauszögerte. Ein anderer Teil konterte, dass er lieber verzweifelt als apathisch sterben wollte. Schließlich hatte er sich bis zu seiner linken Hand durchgegraben und strich mit den Fingern über das Drahtnetz. Stemmte beide Hände dagegen und versuchte es wegzuschieben, aber es ließ sich nicht verrücken. Das Atmen fiel ihm wieder schwerer, der Schnee begann glasig zu werden, sein Sarg würde bald fertig sein. Ein Schwindel kam und klang wieder ab. Höchstens eine Sekunde, aber er wusste, dass das die ersten Anzeichen waren, dass er vergiftete Luft atmete. Bald würde er schläfrig werden, und dann würde das Gehirn sich abschalten,

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