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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Kammer für Kammer, wie ein Hotel auf dem Weg in die Nebensaison. In diesem Moment fühlte Harry etwas, das er so noch nie empfunden hatte, nicht einmal in seinen schrecklichsten Nächten im Chungking Mansion; überwältigende Einsamkeit. Nicht die Gewissheit des bevorstehenden Todes saugte den letzten Funken Willenskraft aus ihm heraus, sondern der Gedanke, hier zu sterben, ohne einen Menschen, ohne die, die er geliebt hatte, ohne seinen Vater, Sos, Oleg, Rakel …
    Die Schläfrigkeit setzte ein. Harry hörte zu graben auf. Obwohl er wusste, dass das seinen sicheren Tod bedeutete. Ein verführerischer, verlockender Tod, der ihn in seine Arme schloss. Wozu protestieren, sich zur Wehr setzen, warum sich für den Schmerz entscheiden, wenn er sich nur hinzugeben brauchte? Wieso anders entscheiden, als er es bisher immer getan hatte? Harry schloss die Augen.
    Halt.
    Das Drahtnetz.
    Das musste der Funkenschutz vor dem Kamin sein. Kamin. Schornstein. Gemauert. Wenn etwas der Lawine widerstanden hatte und wenn irgendwo keine Schneemassen eingedrungen waren, dann in den Schornstein.
    Harry drückte noch einmal gegen das Netz. Es rührte sich keinen Millimeter. Er kratzte mit den Fingernägeln über das Netz. Kraftlos, resigniert.
    Es war definitiv. Das war das Ende. Sein C02-infiziertes Hirn ahnte dunkel die Logik dahinter, aber er akzeptierte all das. Hieß den süßen, warmen Schlaf willkommen. Die Betäubung. Freiheit.
    Seine Finger glitten über das Drahtnetz. Blieben an etwas Hartem, Solidem hängen. Skispitzen. Die Skier seines Vaters. Sie würden mit ihm in den Tod gehen. Die letzte steile Abfahrt gemeinsam machen.
    Mikael Bellman starrte auf das, was vor ihnen lag. Oder vielmehr das, was nicht mehr vor ihnen lag. Weil es nicht mehr da war. Die Hütte. Aus der Schneehöhle hatte sie ausgesehen wie die winzige Bleistiftzeichnung auf einem großen weißen Blatt Papier. Ein Donnern und ein fernes Grummein hatten ihn geweckt. Als er endlich das Fernglas vor den Augen hatte, war wieder Stille eingekehrt gewesen bis auf ein fernes, verzögertes Echo, das vom Hallingskarvet zurückgeworfen wurde. Er hatte durchs Fernglas gestarrt, bis ihm die Augen tränten, es immer wieder über die weiße Fläche schweifen lassen. Es war, als hätte jemand das Papier mit einem Radiergummi bearbeitet. Keine Bleistiftzeichnung mehr, nur friedliches, jungfräuliches Weiß. Es war unfassbar. Die Hütte war einfach weg. Sie hatten die Skier untergeschnallt und acht Minuten bis zum Lawinenfeld gebraucht. Genauer gesagt acht Minuten und achtzehn Sekunden. Er hatte die Zeit notiert. Er war Polizist.
    »Scheiße, der Abbruch ist mindestens einen Quadratkilometer groß«, hörte er jemanden hinter sich rufen und sah die dürftigen gelben Lichtkegel ihrer Taschenlampen über die Schneefläche huschen.
    Das Walkie-Talkie rauschte. »Der Helikopter ist in dreißig Minuten hier, sagt die Notrufzentrale. Over.«
    Zu lange, dachte Bellman. Nach einer halben Stunde waren die Überlebenschancen in einer Lawine eins zu drei. Und was sollten sie machen, wenn der Helikopter da war? Sollten sie mit ihren Sonden nach den Überresten einer Hütte suchen? »Danke,
over and out.«
    Erdal kam neben ihm zum Stehen. »Glück muss man haben! In Äl gibt es Lawinensuchhunde. Die werden grad nach Ustaoset gebracht. Der zuständige Polizist von Ustaoset, Krongli, ist nicht zu Hause, jedenfalls nimmt er das Telefon nicht ab, aber im Hotel gibt es einen, der einen Schneescooter hat und die Hunde hier rauffahren kann.« Er schlug die Arme um sich.
    Bellman starrte auf den Schnee unter ihnen. Irgendwo da unten war Kaja. »Wie oft gehen hier Lawinen ab?«
    »Alle zehn Jahre«, sagte Erdal.
    Bellman wippte auf den Füßen. Milano dirigierte die anderen, die sich verteilten und den Schnee mit ihren Stöcken und Skiern perforierten. »Und die Lawinensuchhunde?«, fragte er. »Vierzig Minuten.«
    Bellman nickte. Voller Gewissheit, dass auch die Lawinenhunde nichts bringen würden. Wenn sie eintrafen, war seit dem Lawinenabgang schon über eine Stunde vergangen.
    Die Überlebenschance läge bereits unter zehn Prozent, bevor sie überhaupt loslegen konnten. Nach anderthalb Stunden war sie praktisch gleich null.
    Die Reise hatte begonnen. Er fuhr Schneescooter. Dunkelheit und Licht schössen ihm entgegen, als hätte sich der diamantbestreute Himmel vor ihm aufgetan, um ihn willkommen zu heißen. Hinter ihm im Schnee stand der Mann, der Geist, und zielte durch das Zielfernrohr seines

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