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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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weg.
    Harry sah sie fragend an. »Ich meinte doch nur …«
    »Hör mal!«
    Harry hielt die Luft an und lauschte. Er hörte nichts. »Was war das?«
    »Klang wie ein Auto«, sagte Kaja und spähte nach draußen. »Was meinst du?«
    »Wohl kaum«, sagte Harry. »Bis zum nächsten winteroffenen Weg sind es über zehn Kilometer. Könnte das ein Helikopter gewesen sein? Oder ein Schneescooter?«
    »Wahrscheinlich nur mein überspanntes Hirn.« Kaja seufzte. »Jetzt ist das Geräusch weg. Wenn es denn überhaupt da war. Tut mir leid, Angst macht einen schnell hypersensibel.«
    »Nein«, sagte Harry und zog den Revolver aus dem Schulterhalfter. »Angemessen ängstlich und angemessen sensibel. Beschreib, was du gehört hast.« Harry stand auf und stellte sich an das andere Fenster.
    »Nichts, sag ich doch.«
    Harry stellte das Fenster auf Kipp. »Dein Gehör ist besser als meins. Hör für uns beide.« Sie saßen da und lauschten in die Stille. Die Minuten vergingen. »Harry …«
    »Schhh.«
    »Setz dich wieder zu mir, Harry.«
    »Er ist hier«, sagte Harry, flüsternd, als spräche er mit sich selbst. »Er ist ganz in der Nähe.«
    »Harry, jetzt bist du aber hypersen…«
    Ein dumpfes Grummein war zu hören. Leise, tief und irgendwie rollend und langsam, gar nicht bedrohlich, wie fernes Donnergrollen. Aber Harry wusste, dass es in einer sternenklaren Nacht bei sieben Grad unter null selten donnerte.
    Er hielt die Luft an.
    Und dann hörte er es wieder, ein Dröhnen, anders als vorher, aber ebenso niederfrequent wie die Schallwellen aus einem Basslautsprecher, Schallwellen, die Luft vor sich herschoben, die man im Bauch spürte. Harry hatte dieses Geräusch ein einziges Mal in seinem Leben gehört, und in diesem Moment wusste er, dass er sich bis ans Ende seines Lebens daran erinnern würde.
    »Lawine!«, rief Harry und rannte zu der Tür, die der Bergseite zugewandt war und hinter der Kolkka lag. »Lawine!«
    Die Schlafzimmertür flog auf, und da stand Kolkka, hellwach. Der Boden bebte. Das musste eine gigantische Lawine sein. Harry wusste, dass die Hütte ein Fundament und einen Keller hatte, aber bis dorthin würden sie es niemals schaffen. Hinter Kolkka flogen die Glassplitter des Schlafzimmerfensters wie Geschosse durch den Raum, von der Luftmasse in die Hütte gedrückt, die große Lawinen vor sich herschoben.
    »Festhalten!«, schrie Harry durch das Getöse und streckte die Hände aus, eine zu Kaja und eine zu Kolkka. Er sah sie auf ihn zustürzen, als alle Luft aus der Hütte gesogen wurde, als hätte die Lawine geatmet, erst aus und dann wieder ein. Er fühlte, wie Kolkkas Hand seine fest umklammerte, und wartete auf Kajas Händedruck, als die Schneewand die Hütte traf.
KAPITEL 58
    Schnee
    E s war ohrenbetäubend still und stockfinster. Harry versuchte, sich zu bewegen. Vergeblich. Sein Körper war wie in Gips gegossen, er konnte nicht einmal den kleinen Finger rühren. Er hatte automatisch getan, was sein Vater ihm immer eingeschärft hatte: die Hand so vors Gesicht legen, dass sich ein Hohlraum bildete. Ob dieser Hohlraum tatsächlich mit Sauerstoff gefüllt war, konnte Harry nicht sagen. Weil er nicht atmen konnte. Er wusste gleich, was das war. Panzerherz. Das, wie Olav Hole erklärt hatte, zustande kam, wenn Brustkorb und Zwerchfell so fest vom Schnee zusammengepresst wurden, dass die Lungen sich nicht mehr ausdehnen konnten. Das hieß, dass seinem Körper nur so viel Sauerstoff zur Verfügung stand, wie im Blut war, etwa ein Liter also, und dass er bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 0,25 Litern pro Minute noch knapp vier Minuten zu leben hatte. Er bekam Panik; er brauchte Luft, musste atmen! Harry spannte den Körper an, aber der Schnee war wie eine Würgeschlange, die ihre Umklammerung noch verstärkte. Er wusste, dass er die Panik verjagen, dass er denken musste. Jetzt. Die Welt draußen hatte aufgehört zu existieren; Zeit, Schwerkraft, Temperatur, all das gab es nicht mehr. Harry hatte keine Ahnung, wo oben und wo unten war oder wie lange er schon unter dem Schnee begraben lag. Ein weiterer Lehrsatz seines Vaters schwirrte durch sein Hirn.
    Um sich zu orientieren, wie herum man liegt, muss man etwas Speichel über die Lippen schieben und darauf achten, in welche Richtung der Speichel übers Gesicht läuft. Er fuhr mit der Zunge am Gaumen entlang. Bestimmt war es die Angst, das Adrenalin, die ihn so austrockneten. Er öffnete die Lippen und schob sich mit Hilfe der Finger vor seinem Gesicht

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