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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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stöhnte er und hob sie hoch. Trug sie die Treppe nach oben. Trat die Tür des Schlafzimmers auf und legte sie aufs Bett. Auf die Seite seiner Mutter. Sie beugte den Kopf nach hinten, schloss die Augen und ließ sich schnell und effektiv ausziehen. Fühlte die Wärme, die von seiner Haut ausstrahlte, bevor er sich auf sie legte und ihre Beine auseinanderdrückte. Ja, dachte sie. Zum Teufel mit mir.
    Sie lag mit der Wange und ihrem Ohr auf seiner Brust und lauschte seinem Herzschlag.
    »Was hast du eigentlich gedacht?«, fragte sie flüsternd. »Als du dalagst und wusstest, dass du sterben würdest.«
    »Dass ich leben wollte«, sagte Harry.
    »Nur das?«
    »Nur das.«
    »Nicht, dass du … die, die du liebst, noch einmal sehen willst?«
    »Nein.«
    »Bei mir war das so. Das war ganz merkwürdig. Ich hatte solche Angst, dass es mich innerlich zerriss. Doch dann wurde aus dieser Angst eine Art Frieden. Ich bin einfach eingeschlafen. Und dann kamst du. Und hast mich geweckt. Gerettet.«
    Harry reichte ihr seine Zigarette, und sie nahm einen Zug davon. Sie kicherte.
    »Du bist ein Held, Harry. Einer von denen, die Medaillen verliehen bekommen. Hätte man von dir nicht erwartet, oder?«
    Harry schüttelte den Kopf. »Glaub mir, ich habe bloß an mich selbst gedacht. Ich habe keinen Gedanken an dich verschwendet, bis ich am Kamin war.«
    »Naja, aber auch im Kamin hattest du nicht genug Luft. Dir war klar, dass wir die Luft doppelt so schnell aufbrauchen, wenn du mich da rausholst.«
    »Was soll ich sagen, ich bin halt spendabel.«
    Sie schlug ihm lachend auf die Brust. »Ein Held!«
    Harry nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. »Vielleicht hat der Wille zu überleben auch nur mein Gewissen ausgetrickst.«
    »Wie meinst du das?«
    »Der, den ich zuerst gefunden hab, war so stark, dass er beinahe meinen Skistock festgehalten hätte. Mir war sofort klar, dass das Kolkka ist und dass er noch am Leben war. Ich wusste, dass es um Minuten und Sekunden ging, aber statt ihn auszugraben, habe ich weiter im Schnee herumgestochert, bis ich dich gefunden habe. Du hast dich nicht geregt, ich dachte, du wärst tot.«
    »Und.«
    »Vielleicht habe ich ja gedacht, wenn ich den Toten zuerst ausgrabe, stirbt der Lebende vielleicht in der Zwischenzeit, und dann habe ich alle Luft für mich allein. Es ist schwer zu sagen, was einen in einer solchen Situation wirklich antreibt.«
    Sie antwortete nicht. Draußen näherte sich knatternd ein Motorrad, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ein Motorrad im Februar. Und heute hatte sie einen Zugvogel gesehen. Alles war aus den Fugen.
    »Grübelst du immer so viel?«, fragte sie.
    »Nein. Vielleicht. Ich weiß nicht.«
    Sie schmiegte sich noch dichter an ihn. »Und worüber denkst du jetzt nach?«
    »Woher weiß er, was er weiß?« Sie seufzte. »Unser Mörder?«
    »Und warum spielt er mit mir? Warum schickt er mir einen Körperteil von Tony Leike. Wie tickt dieser Mensch?«
    »Und wie willst du das herausfinden?«
    Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, der auf dem Nachtschränkchen stand. Atmete tief ein und entließ die Luft mit einem langen Zischen wieder aus den Lungen. »Das ist es ja. Es gibt nur eine Lösung. Ich muss mit ihm reden.«
    »Mit ihm? Dem Kavalier?«
    »Mit jemandem
wie ihm.«
    Auf dem Weg in den Schlaf kam der Traum. Er starrte auf einen Nagel, der aus dem Kopf eines Mannes ragte. Aber in dieser Nacht kam ihm das Gesicht irgendwie bekannt vor. Ein bekanntes Bild, jemand, den er schon oft gesehen hatte. Erst vor kurzem. Der Fremdkörper in Harrys Mund explodierte, und er zuckte zusammen. Er schlief.
KAPITEL 70
    Toter Winkel
    H arry wurde von einem Gefängnisaufseher in Zivil durch den Krankenhauskorridor begleitet. Zwei Schrittlängen vor ihm ging die behandelnde Ärztin. Sie hatte Harry über den Zustand des Patienten informiert und ihn darauf vorbereitet, was ihn erwartete.
    Sie kamen an eine Tür, die von dem Aufseher aufgeschlossen wurde. Dahinter ging der Korridor noch ein paar Meter weiter. Linker Hand waren drei Türen. Vor einer stand ein uniformierter Gefängniswärter.
    »Ist er wach?«, fragte die Ärztin, während der Wärter Harry abtastete. Er nickte, legte den gesamten Inhalt aus Harrys Taschen auf den Tisch, schloss die Tür auf und trat zur Seite.
    Die Ärztin signalisierte Harry, dass er draußen warten sollte, und ging mit dem Wärter hinein. Kurz darauf kam sie zurück.
    »Maximal eine Viertelstunde«, sagte sie. »Er ist auf dem Wege der

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