Leopard
Besserung, aber immer noch sehr geschwächt.«
Harry nickte. Holte tief Luft. Und trat ein.
Hinter der Schwelle blieb er stehen und hörte die Tür in seinem Rücken zugleiten. Die Gardinen waren vorgezogen, und der Raum lag ganz im Dunkeln. Die einzige Lichtquelle war eine Lampe über dem Bett, deren Licht auf eine Gestalt fiel, die halb aufrecht mit gesenktem Kopf und langen strähnigen Haaren im Bett saß.
»Komm näher, Harry.« Die Stimme war verändert, klang wie das Wimmern schlecht geschmierter Türscharniere. Aber Harry erkannte sie trotzdem wieder, und sie jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.
Er trat ans Bett und setzte sich auf den Stuhl, der ihm dorthin gestellt worden war. Der Mann hob den Kopf. Und Harry hielt den Atem an.
Es sah aus, als hätte jemand flüssiges Wachs über das Gesicht gegossen, das sich zu einer zu engen Maske versteift hatte. Die Haut über der Stirn und dem Kinn wurde nach hinten gezogen, so dass der Mund eine kleine, lippenlose Höhle in einer hügeligen Landschaft verknöcherten Gewebes bildete. Er lachte in zwei abgehackten Luftstößen.
»Erkennst du mich etwa nicht wieder, Harry?«
»Ich erkenne die Augen«, sagte Harry. »Das reicht. Du bist es.«
»Was Neues von …«, der kleine, karpfenförmige Mund sah aus, als versuchte er ein Lächeln zu formen, »… unserer Rakel?«
Harry hatte sich innerlich darauf vorbereitet, wie ein Boxer auf den Schmerz. Trotzdem ballten sich seine Hände zu Fäusten, als er ihren Namen aus seinem Mund hörte.
»Du hast eingewilligt, mit mir über einen Mann zu sprechen. Einen Mann, von dem wir glauben, dass er wie du ist.«
»Wie ich? Hübscher, hoffe ich.« Wieder zwei kurze Luftstöße. »Es ist schon merkwürdig, Harry. Ich war nie eitel. Ich habe geglaubt, das Schlimmste an dieser Krankheit wären die Schmerzen. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Der körperliche Verfall. Sich selbst, dieses Monster im Spiegel heranwachsen zu sehen. Noch lassen sie mich allein auf die Toilette gehen, aber da mache ich einen Bogen um jeden Spiegel. Ich war ein gutaussehender Mann, musst du wissen.«
»Hast du gelesen, was ich dir geschickt habe?«
»Ich musste es heimlich lesen. Doktor Dyregod meinte, ich solle mich nicht übernehmen. Infektionen. Entzündungen. Fieber. Sie ist aufrichtig um meine Gesundheit besorgt, Harry. Ziemlich verblüffend, wenn man bedenkt, was ich getan habe, oder? Ich persönlich will eigentlich nur noch sterben. In dieser Hinsicht beneide ich die, die ich … Aber das hast du ja zu verhindern gewusst, Harry.«
»Der Tod wäre eine zu milde Strafe gewesen.«
In den Augen des Mannes im Bett flammte etwas auf und schoss wie weiße, kalte Blitze aus den schmalen Augen.
»Zumindest hat es mir einen Namen und einen Platz in den Geschichtsbüchern eingebracht. Alle wollen etwas über den Schneemann lesen. Irgendjemand wird mein Erbe schon antreten und meine Ideen zu Ende führen. Und was hast du bekommen, Harry? Nichts. Im Gegenteil. Das wenige, das du hattest, hast du auch noch verloren.«
»Stimmt«, sagte Harry. »Du hast gewonnen.«
»Fehlt dir dein Mittelfinger?«
»In diesem Augenblick, ja.« Harry hob den Kopf und begegnete dem Blick des anderen. Hielt ihn fest. Bis der kleine Karpfenmund sich öffnete. Das Lachen klang wie ein Pistolenschuss mit Schalldämpfer.
»Deinen Sinn für Humor hast du jedenfalls nicht verloren, Harry. Dir ist klar, dass ich eine Gegenleistung verlange?«
»No eure, no pay.
Aber, lass hören.«
Der Mann drehte sich mühsam zum Nachttisch um, nahm das Wasserglas, das dort stand, und führte es an die Mundöffnung. Harry starrte die Hand an, die das Glas hielt. Sie sah aus wie eine weiße Vogelkralle. Als er genug getrunken hatte, stellte er das Glas umständlich wieder ab und begann zu reden. Die Jammerstimme klang schwächer, wie ein Radio, dessen Batterien am Ende waren.
»In meinen Haftbedingungen muss was von extremer Suizidgefahr stehen, jedenfalls passen sie auf wie die Schießhunde. Du wurdest abgetastet, ehe sie dich reingelassen haben, stimmt's? Aus Angst, du könntest ein Messer zu mir reinschmuggeln. Ich möchte den Rest des Verfalls nicht mehr mit ansehen, Harry. Es reicht, findest du nicht?«
»Nein«, sagte Harry. »Das finde ich nicht. Überleg dir was anderes.«
»Du hättest einfach lügen und ja sagen können.«
»Wäre dir das lieber?«
Der Mann wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich will Rakel sehen.« Harry hob erstaunt die Augenbrauen.
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