Leopard
sie, nahm seinen Arm und zog ihn ins Haus.
Harry trat über die Türschwelle und blieb drinnen im Halbdunkel stehen. Alle Gardinen waren vorgezogen, abgesehen von der vor dem Fenster über dem Bett, auf dem er sie bei seinem ersten Besuch halbnackt hatte liegen sehen.
»Er ist noch nicht gekommen«, sagte sie in ihrem einfachen, effektiven Englisch. »Aber bald.«
Harry nickte und blickte zum Bett. Versuchte sie sich vorzustellen, mit einer Decke über den Hüften und dem Licht auf ihrer Haut. Aber es gelang ihm nicht, denn seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefangengenommen, etwas war anders, stimmte nicht, fehlte oder war da, ohne wirklich dorthin zu gehören.
»Sind Sie allein gekommen?«, fragte sie, ging um ihn herum und setzte sich vor ihm aufs Bett. Legte die rechte Hand auf die Matratze, so dass ein Träger ihres Kleides nach unten rutschte.
Harry sah sich um und suchte den Fehler. Und fand ihn. Der Kolonialherr und Ausbeuter König Leopold.
»Ja«, sagte er automatisch, ohne wirklich zu wissen, warum.
»Alone.«
Das Bild von König Leopold, das über dem Bett gehangen hatte, es war nicht mehr da. Gleich darauf meldete sich ein zweiter Gedanke. Van Boorst würde nicht kommen, auch er war nicht mehr da.
Harry trat einen halben Schritt auf die junge Frau zu. Sie sah ihn an und fuhr sich mit der Zunge über die vollen rotschwarzen Lippen. Er konnte den Nagel erkennen, an dem das Bild des belgischen Königs gehangen hatte, doch jetzt steckte auf diesem Nagel ein Geldschein. Ein Geldschein mit einem aufgeprägten Gesicht, sensibel und mit gepflegtem Schnäuzer. Edvard Münch.
Harry begriff mit einem Mal, was geschehen würde, und wollte sich umdrehen, aber es war zu spät, denn er befand sich exakt an dem Ort, an dem der unsichtbare Regisseur ihn haben wollte.
Die Bewegung hinter sich ahnte er mehr, als dass er sie sah, und den präzisen Stich in den Hals spürte er gar nicht, wohl aber den Atem an seiner Schläfe, die plötzliche Kälte in seinem Nacken und die Lähmung, die von der Wirbelsäule in den Kopf stieg, bis die Beine unter ihm nachgaben, der Stoff sein Hirn erreichte und er das Bewusstsein verlor. Bevor alles um ihn herum dunkel wurde, meldete sich noch ein letzter Gedanke: wie verblüffend schnell Ketanomin wirkte.
KAPITEL 84
Wiedervereinigung
K aja biss sich auf die Unterlippe. Irgendetwas stimmte nicht. Noch einmal wählte sie Harrys Nummer, erreichte aber wieder nur seinen Anrufbeantworter.
Fast drei Stunden saß sie schon in der Ankunftshalle des Flughafens – die eigentlich auch die Abflughalle war –, und der Plastikstuhl malträtierte jeden Körperteil, mit dem er in Berührung kam.
Sie hörte das Brummen eines Flugzeugs und sah gleich darauf auf dem einzigen Monitor der Halle, einem verbeulten Kasten, der zwischen zwei Ventilatoren unter der Decke hing, dass Flug KJ 337 aus Zürich gelandet war.
Alle zwei Minuten hatte sie die Personen in der Halle mit ihrem Blick gescannt und war sich sicher, dass Tony Leike nicht darunter war.
Sie wählte noch einmal Harrys Nummer, unterbrach die Verbindung aber, als sie bemerkte, dass es keine bewusste Handlung, sondern bloße Apathie war.
Die Schiebetüren zu den Gepäckbändern gingen auf, und die Passagiere, die nur Handgepäck bei sich hatten, kamen heraus. Kaja stand auf und stellte sich so neben die Schiebetür, dass sie die Namen auf den Plastikschildern lesen konnte, die die Taxifahrer den Neuankömmlingen entgegenstreckten. Es wurde weder eine Juliana Verni noch eine Lene Galtung erwartet.
Kaja ging zurück zu ihrem Aussichtsposten auf dem Stuhl und setzte sich auf ihre schweißnassen Hände. Was sollte sie tun? Sie setzte die große Sonnenbrille auf und spähte zu den Schiebetüren.
Sekunden vergingen, nichts geschah.
Lene Galtung war hinter der violetten Sonnenbrille und dem großen Schwarzen, der direkt vor ihr ging, kaum zu sehen. Ihre Haare lockten sich rot über ihre Jeansjacke, zu der sie eine khakifarbene Hose und solide Bergschuhe trug. Sie zog einen Rollkoffer hinter sich her, der gerade noch als Handgepäck durchging. Statt einer Handtasche hatte sie einen kleinen, blanken Metallkoffer.
Nichts geschah. Oder alles. Parallel und gleichzeitig, Vergangenheit und Gegenwart. Auf irritierende Weise verstand Kaja, dass die Gelegenheit endlich gekommen war. Die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Die Chance, das Richtige zu tun.
Sie schaute nicht in Lene Galtungs Richtung, achtete aber darauf, sie nicht aus
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