Leopard
zusammen mit meiner Mutter draußen im Klohäuschen. Wir haben das immer so gemacht. Als wir heraus kamen, schlug er mich mit einem scharfen Spaten, weil er das für eine Sünde hielt. Er meinte, ich sei zu alt, um gemeinsam mit meiner Mutter aufs Klo zu gehen. Er hat mich fürs Leben gezeichnet.«
Lene schluckte, während Tony mit seinem verkrümmten, gichtigen Zeigefinger über den oberen Rand der Narbe auf seiner Brust fuhr. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sein Mittelfinger fehlte.
»Tony! Was ist…«
»Psst! Ich war fünfzehn Jahre alt, als mein Vater mich das letzte Mal verprügelte. Er benutzte seinen Gürtel 23 Minuten lang ohne Pause. 1392 Sekunden. Ich habe sie gezählt. Er hat alle vier Sekunden zugeschlagen, wie ein Uhrwerk. Geschlagen und geschlagen, wobei er immer mehr in Rage geriet, weil ich nicht zu weinen anfing. Zum Schluss war sein Arm so lahm, dass er aufgeben musste. 348 Schläge. In der folgenden Nacht habe ich gewartet, bis ich sein Schnarchen hörte, dann bin ich ins Schlafzimmer geschlichen und habe ihm einen Tropfen Säure ins Auge getropft. Er schrie wie am Spieß, während ich ihn festhielt und ihm ins Ohr flüsterte, dass ich ihn töten würde, wenn er mich noch einmal anrührte. Ich spürte ihn in meinen Armen erstarren und wusste mit einem Mal, dass ich jetzt stärker als er war. Er hat damals verstanden, dass ich das in mir habe.«
»Was denn, Tony.«
»Ihn, den Mörder.«
Lenes Herz blieb stehen. Das konnte nicht sein. Durfte nicht wahr sein. Er hatte ihr doch gesagt, dass er unschuldig war, dass sie sich irrten.
»Nach diesem Tag umkreisten wir uns wie Tiere. Und Mutter wusste, dass nur einer von uns überleben würde, er oder ich. Eines Tages kam sie zu mir und sagte, er sei in Geilo gewesen und habe neue Munition für die Flinte gekauft. Ich solle sehen, dass ich fortkam, sie habe mit Großvater besprochen, was zu tun war. Der Witwer wohnte am Lyseren und wusste, dass er meinen Aufenthalt dort geheim halten musste, weil Vater mir sonst gefolgt wäre. Also ging ich. Mutter ließ es so aussehen, als wäre ich von einer Lawine verschüttet worden. Mein Vater mied die Menschen, und so war es immer Mutter, die sich um alles kümmerte, was den Kontakt mit anderen Menschen erforderte.
Er glaubte, sie hätte mich vermisst gemeldet, dabei hatte sie in Wirklichkeit nur eine einzige Person darüber informiert, was geschehen war und warum. Sie und der Dorfpolizist, Roy Stille, tja … sie kannten sich recht gut. Stille war klug genug, um zu wissen, dass die Polizei wenig tun konnte, um mich vor Vater zu beschützen oder umgekehrt, also half er ihr, meine Spuren zu verwischen. Bei meinem Großvater ging es mir gut. Bis ich die Nachricht erhielt, dass meine Mutter in den Bergen verschwunden war.«
Lene streckte ihre Hand aus. »Mein armer, armer Tony.«
»Ich hab gesagt, du sollst die Augen zumachen!«
Sie zuckte zusammen, als sie die Härte in seiner Stimme hörte, zog ihre Hand zurück und kniff die Augen zu.
»Ich könne nicht zur Beerdigung, sagte mein Großvater. Niemand durfte wissen, dass ich am Leben war. Als er nach Hause kam, erzählte er mir Wort für Wort, was der Pastor in seiner Gedenkrede über sie gesagt hatte. Drei Zeilen. Drei verdammte Zeilen über die schönste und stärkste aller Frauen. Die letzte lautete: ›Karen ging leichten Schrittes durchs Leben. ‹ Der Rest handelte von Jesus und der Vergebung der Sünden. Drei Zeilen und Vergebung für Sünden, die sie nie begangen hat.« Lene hörte Tonys schweren Atem.
»Leichten Schrittes. Da behauptet dieses Arschloch von Pastor auf der Kanzel, sie habe keine Spuren hinterlassen. Sie sei so spurlos verduftet, wie sie gelebt habe. Um dann zur Bibel überzugehen. Großvater hat mir das ohne Umschweife erzählt, und weißt du was, Lene? Das war der wichtigste Tag in meinem Leben. Verstehst du?«
»Ah … nein, Tony.«
»Ich wusste, dass er dabei gewesen war, dass das Schwein, das sie umgebracht hatte, unbehelligt dasaß. In diesem Moment habe ich ihm Rache geschworen. Ich wollte es ihm zeigen. Es allen zeigen. Ich fasste den Entschluss – was auch immer geschehen sollte –, nie so zu enden wie er. Oder wie sie. In drei Zeilen. Und die Vergebung der Sünden brauchen weder ich noch dieses Schwein, wir brennen beide in der Hölle. Aber das ist mir lieber, als das Paradies mit einem solchen Gott zu teilen.« Er senkte seine Stimme: »Niemand, niemand sollte mir im Weg stehen. Verstehst du jetzt?«
»Ja«,
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