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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Metallkoffers mit dem Geld. Ihr Herz schien ihren Brustkorb sprengen zu wollen. Lagen ihre Haare richtig? Sah man ihr den Schlafmangel und die lange Reise an? Über die breite Treppe kam jemand aus dem ersten Stock nach unten. Nein, es war nicht Tony, sondern eine schwarze Frau, sicher eine der Bediensteten. Lene warf ihr ein freundliches, aber nicht übertrieben entgegenkommendes Lächeln zu. Sah einen Goldzahn aufblitzen, als die Frau sie ungeniert, ja, fast frech angrinste und hinter ihr durch die Eingangstür verschwand.
    Da war er.
    Er stand am Geländer der ersten Etage und sah zu ihr nach unten. Er war groß, dunkel und trug einen Morgenmantel aus Seide. Sie sah die schöne, breite Narbe weiß in seiner Brusthaut leuchten. Er lächelte. Ihr Atem ging schneller. Das Lächeln erhellte sein Gesicht, ihr Herz, die ganze Halle, mehr als jeder Kronleuchter es vermochte. Er schritt die Treppe herunter.
    Sie stellte den Koffer ab und stürmte ihm entgegen. Er öffnete seine Arme und nahm sie in Empfang. Endlich war sie bei ihm. Sie roch seinen Duft, stärker als sonst. Vermischt mit einem anderen, würzigen, noch stärkeren Geruch. Der musste von dem eleganten Morgenmantel kommen, der, wie sie jetzt erst sah, ein bisschen zu klein und sicher nicht neu war. Erst als er sich aus ihrer Umarmung befreite, realisierte sie, dass sie sich an ihn geklammert hatte, und ließ ihn los.
    »Liebste, du weinst ja«, sagte er lachend und streichelte ihr über die Wange.
    »Tue ich das?«, lachte sie, trocknete sich die Tränen und hoffte, dass die Schminke nicht verwischte.
    »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte er und nahm ihre Hand. »Komm.«
    »Aber …«, sagte sie, drehte sich um und sah, dass der Metallkoffer bereits entfernt worden war.
    Sie gingen die Treppe hoch und durch eine Tür in ein großes, helles Schlafzimmer. Lange, hauchdünne Gardinen bewegten sich sanft in der milden Brise, die von der Terrasse hereinwehte.
    »Hast du geschlafen?«, fragte sie und musterte das nicht gemachte Himmelbett. »Nein«, sagte er mit einem Lächeln. »Setz dich hierher und schließ die Augen.«
    »Aber …«
    »Tu einfach, was ich sage, Lene.«
    Sie glaubte, einen Anflug von Verärgerung in seiner Stimme zu hören, und beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen.
    »Sie bringen gleich den Champagner, und dann will ich dich etwas fragen. Aber erst möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Bist du bereit?«
    »Ja«, sagte sie und wusste es. Wusste, dass dies der Moment war, auf den sie so lange gewartet hatte. Der Moment, an den sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern würde.
    »Die Geschichte, die ich dir erzählen will, handelt von mir. Es gibt nämlich ein paar Sachen, die du über mich wissen solltest, bevor du meine Frage beantwortest…«
    »Ja, dann.« Es fühlte sich an, als perle der Champagner bereits durch ihre Adern, sie musste sich konzentrieren, um nicht loszulachen.
    »Ich habe dir erzählt, dass ich bei meinem Großvater aufgewachsen bin, weil meine Eltern tot waren. Was ich dir nicht erzählt habe, ist, dass ich bei ihnen gewohnt habe, bis ich fünfzehn war.«
    »Ich wusste es!«, platzte sie heraus.
    Tony zog eine Augenbraue hoch. Eine delikat geformte, unglaublich hübsche Augenbraue, wie sie fand.
    »Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass du ein Geheimnis hast, Tony«, sagte sie lachend. »So wie auch ich ein Geheimnis habe. Ich will, dass wir alles übereinander wissen! Alles!«
    Tony lächelte schief. »Dann, liebe Lene, lass mich weiterreden, ohne mich zu unterbrechen. Meine Mutter war sehr fromm, sie hat meinen Vater in einem Gemeindehaus kennengelernt. Er war gerade entlassen worden, nachdem er eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, weil er aus Eifersucht jemanden ermordet hatte. Im Gefängnis hatte er den Weg zu Jesus gefunden. Für meine Mutter war das wie ein Stück aus der Bibel: ein reuiger Sünder, ein Mann, dem sie zu Erlösung und ewigem Leben verhelfen und dabei gleichzeitig für ihre eigenen Sünden büßen konnte. So hat sie mir erklärt, warum sie dieses Schwein überhaupt geheiratet hat.«
    »Was … ?«
    »Psst! Mein Vater kompensierte den Mord, indem er alles, was kein Lobpreis Gottes war, als Sünde betrachtete. Mir war alles verboten, was andere Kinder durften. Widersprach ich ihm, bekam ich seinen Gürtel zu schmecken. Er provozierte mich gerne, sagte, die Sonne kreise um die Erde, das stünde so in der Bibel. Protestierte ich, kriegte ich Prügel. Irgendwann mit zwölf war ich

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