Leopard
Gefängnis bringen. Aber wer war so kaltblütig und sah dabei zu, wie ich einen Menschen nach dem anderen tötete, ohne diesen … diesen Kreuzzug gegen mich aufzugeben? Wer konnte mich so aus ganzer Seele hassen? Dann kam der letzte Brief. Dieses Mal gab er seine Identität nicht preis, schrieb mir aber, dass er in jener Nacht in der Hävasshütte gewesen war, unsichtbar wie ein Geist. Und dass ich ihn gut kannte. Zu gut. Er wollte kommen und mich holen. Da wusste ich, dass er mich doch noch gefunden hatte. Es war mein Vater.« Tony holte tief Luft.
»Er hatte die gleichen Pläne mit mir wie ich mit ihm. Ein lebendiges Begräbnis, er wollte mich lebenslang einmauern. Aber wie war ihm das gelungen? Ich mutmaßte, dass er die Aufsicht über die Hävasshütte hatte und ihm so vielleicht zu Ohren gekommen war, was dort geschehen war. Vielleicht wusste er, dass ich am Leben war, vielleicht beobachtete er mich schon eine ganze Weile aus der Ferne. Nach meiner Verlobung mit dir hat die Boulevardpresse ja ein paar Bilder von mir abgedruckt, und sogar Vater schaut hin und wieder in diese Magazine. Aber er musste mit jemandem zusammenarbeiten, er selbst konnte unmöglich nach Oslo gefahren und bei mir eingebrochen sein oder das Foto von Adele mit dem Messer im Hals gemacht haben. Oder doch? Dann fand ich heraus, dass dieses Schwein nicht mehr auf unserem alten Hof wohnte. Was er nicht wusste, war, dass ich mich da oben im Gebirge nach der langen Suche nach Mutter inzwischen besser auskannte als er. Ich fand ihn in der Touristenhütte unweit des großen Abgrunds. Und freute mich wie ein Kind. Aber es wurde kein Höhepunkt, ganz im Gegenteil.«
Seide raschelte.
»Ich hatte weniger Freude daran, ihn zu foltern, als ich erhofft hatte. Er hat mich nicht einmal wiedererkannt, dieser blinde Idiot. Aber das war egal. Eigentlich wollte ich doch, dass er in mir das sah, was er selbst nie erreicht hat. Den Erfolg. Ich wollte ihn demütigen. Stattdessen bekam er mich als das zu sehen, was er selber war. Als Mörder.« Er seufzte. »Irgendwann wurde mir klar, dass er mit niemandem zusammengearbeitet hatte. Andererseits hatte er nicht die Möglichkeit, so etwas allein durchzuziehen, dafür war er zu jämmerlich, zu ängstlich, zu feige. Das Auslösen der Lawine oberhalb der Hävasshütte geschah in Panik. Weil ich jetzt wusste, dass es ein anderer war. Ein unsichtbarer, lautloser Jäger, der irgendwo im Dunkeln wartete und im Takt mit mir atmete. Ich musste weg. Außer Landes. Irgendwohin, wo mich niemand finden würde. Und so bin ich hier gelandet. Liebste. Am Rande eines Dschungels von der Größe Westeuropas.« Lenes Körper zitterte unkontrolliert. »Warum tust du das, Tony? Warum erzählst du mir das alles?«
Sie spürte seine Hand auf ihrer Wange. »Weil du es verdienst. Liebste. Weil du Galtung heißt und an deinem Grab eine lange Gedenkrede bekommen sollst. Außerdem finde ich es richtig, dass du alles über mich weißt, bevor du mir deine Antwort gibst.«
»Meine Antwort worauf?«
»Ob du mich heiraten willst?«
In ihrem Kopf drehte sich alles. »Ob ich … ich …«
»Mach deine Augen auf, Lene.«
»Aber ich …«
»Mach sie auf, sage ich.«
Sie tat, was er sagte.
»Der ist für dich«, sagte er.
Lene Galtung schrak entsetzt auf.
»Er ist aus Gold«, sagte Tony. Das Sonnenlicht glänzte matt auf dem gelbbraunen Metall, das auf einem Blatt Papier auf dem Salontisch neben ihnen lag. »Ich will, dass du ihn trägst.«
»Trägst?«
»Natürlich, nachdem du unseren Ehevertrag unterschrieben hast.«
Lene schlug mit den Augenlidern, immer wieder. Versuchte aus diesem Albtraum aufzuwachen. Die Hand mit den verkrümmten Fingern kroch über den Tisch und legte sich auf ihre Hand. Sie schlug den Blick nieder und sah das Muster auf der burgunderroten Seide seines Morgenmantels.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Das Geld, das du mitgebracht hast, reicht nur für begrenzte Zeit, aber durch die Ehe mit dir steht mir nach deinem Tod ein gewisser Pflichtteil zu. Du fragst dich, ob ich dich umbringen will, nicht wahr?«
»Willst du?«
Tony lachte leise und drückte ihre Hand. »Und du? Willst du dich mir in den Weg stellen, Lene?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte doch nur für ihn da sein wollen. Für ihn. Wie in Trance nahm sie den Stift, den er ihr reichte. Führte ihn zum Papier. Ihre Tränen tropften auf die Unterschrift und ließen sie zerfließen. Er schnappte sich das Formular.
»Alles ist gut«, sagte er,
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