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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zurückgelegt, um mit Kunden zu Abend zu essen oder einen Vortrag zu halten. In der sicheren Gewissheit, dass seine Opfer den Rest der Tat selber erledigten und ihm dadurch zu dem bestmöglichen Alibi für den Tatzeitpunkt verhalfen. Strenggenommen hatte er sie nicht einmal ermordet.
    Harry bewegte den Kopf vorsichtig hin und her, um auszutesten, welchen Aktionsradius er hatte, ohne die Schnur zu straffen.
    Er musste etwas tun. Irgendetwas. Er stöhnte, glaubte Spannung auf der Schnur wahrzunehmen, hielt die Luft an und starrte zur Tür. Wartete darauf, dass sie sich öffnete, dass …
    Nichts geschah.
    Er versuchte sich an van Boorsts Demonstration zu erinnern, daran, wie weit die Noppen ohne Widerstand aus dem Apfel herausgeragt hatten. Wenn er den Mund doch nur weiter öffnen könnte, wenn die Kiefer …
    Harry schloss die Augen. Was ihn am meisten überraschte, war, wie seltsam logisch und einleuchtend der Einfall auf ihn wirkte, wie wenig Widerstand sich in ihm meldete. Im Gegenteil, er empfand Erleichterung. Erleichterung darüber, sich selbst noch mehr Schmerzen zuzufügen und, wenn nötig, das eigene Leben auszulöschen, im Versuch zu überleben. Es war so logisch und einfach, dass die schwarze Finsternis schlagartig von der einleuchtenden, klaren, wahnsinnigen Idee vertrieben wurde. Harry drehte sich auf den Bauch, den Kopf dicht an dem U-förmigen Nagel, so dass die Schnur etwas durchhing. Dann kniete er sich vorsichtig hin. Tastete seinen Kiefer ab. Fand den Punkt. Den Punkt, an dem alles zusammenlief: der Schmerz, das Kiefergelenk, der Knoten aus Nerven und Muskeln, der den Kiefer nach den Geschehnissen in Hongkong gerade noch zusammenhielt. Er würde es nicht schaffen, sich selbst fest genug zu schlagen, das musste das Gewicht seines Körpers für ihn erledigen. Prüfend fuhr er mit dem Zeigefinger über den Kopf des Nagels mit dem Geldschein. Er ragte etwa vier Zentimeter aus der Wand. Ein normaler Nagel mit großem, breitem Kopf. Er würde alles zerschmettern, was sich ihm in den Weg stellte, wenn es nur mit ausreichender Wucht auf ihn traf. Harry zielte, legte den Kiefer versuchsweise an den Nagel und richtete sich etwas auf, um den Winkel zu berechnen, in dem er auf ihn fallen musste. Wie tief er eindringen musste. Und wie tief er
nicht
vordringen durfte. Nacken, Nerven, Lähmung. Er kalkulierte. Nicht kalt und ruhig. Aber sachlich. Zwang sich dazu. Der Nagelkopf war nicht gerade wie der Querstrich eines T, er wölbte sich leicht nach innen zur Wand, so dass die Wirkung vielleicht nicht gleich hundertprozentig sein würde. Zum Schluss fragte er sich noch, ob er wirklich an alles gedacht hatte, bis er begriff, dass sein Hirn nur Zeit zu gewinnen versuchte. Harry holte tief Luft.
    Sein Körper wollte nicht. Er protestierte, stemmte sich dagegen. Wollte den Kopf nicht fallen lassen.
    »Idiot!«, versuchte Harry zu rufen, aber der Apfel erstickte alle Laute. Er spürte eine heiße Träne über seine Wange rinnen.
    Genug geheult, dachte er, es ist an der Zeit, ein bisschen zu sterben.
    Dann ließ er den Kopf fallen.
    Der Nagel drang schmatzend in seine Wange.
    Kaja tastete nach dem Handy. Die Carpenters hatten gerade ein dreistimmiges
Stop!
gesungen, gefolgt von Karen Carpenters
Oh. Yeah wait a minute.
Ihr SMS-Klingelton. Draußen war es schnell und brutal dunkel geworden. Sie hatte drei Nachrichten an Harry gesendet. Erzählt, was geschehen war, dass sie auf einer Straße vor der Villa stand, in der Lene Galtung verschwunden war, und auf weitere Nachrichten und vor allem ein Lebenszeichen von ihm wartete.
    Gute Arbeit. Holst du mich in der Straße südlich der Kirche ab. Die ist leicht zu finden. Es ist das einzige Steinhaus. Geh einfach rein, es ist offen, Harry
    Sie gab die Adresse an den Taxifahrer weiter, der gähnend nickte und den Motor anließ.
    Kaja tippte »Bin unterwegs«, als sie Richtung Norden über die beleuchteten Straßen fuhren. Der Vulkan erhellte den Nachthimmel wie eine Glühlampe, ließ die Sterne verblassen und tauchte alles in einen diffusen, blutroten Schimmer.
    Eine Viertelstunde später befanden sie sich auf einer Straße, die einem Bombenkrater glich. Vor einem Laden hingen ein paar Öllampen. Entweder war der Strom wieder abgeschaltet worden, oder in dieser Gegend gab es gar keinen.
    Der Fahrer hielt an und zeigte auf ein Haus. Van Boorst. Es war tatsächlich ein kleines Steinhaus. Kaja sah sich um. Etwas weiter die Straße hinauf standen zwei Range Rover.
    Zwei knatternde

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