Leopard
blies über das Blatt und nickte in Richtung Salontisch. »Und jetzt ziehen wir den da an.«
»Wie meinst du das, Tony? Das ist doch kein Ring?«
»Ich meine damit, dass du den Mund aufmachen sollst, Lene.«
Harry blinzelte. Eine einzelne, nackte Glühbirne hing von der Decke. Er lag auf dem Rücken auf einer Matratze. Ohne Kleider. Es war der Traum, den er schon oft geträumt hatte, nur dass er nicht träumte. Über ihm ragte ein Nagel aus der Wand, und auf dem Nagel steckte der Kopf von Edvard Münch. Ein norwegischer Geldschein. Er sperrte den Mund so weit auf, dass sein schief zusammengewachsener Kiefer zu brechen drohte, aber trotzdem spannte sich alles und übte einen solchen Druck aus, als würde sein Kopf zerspringen. Er träumte nicht. Die Wirkung des Ketanomin wurde schwächer, und die Schmerzen ließen keinen Platz für weitere Träume. Wie lange lag er schon da? Wie lange würde es dauern, bis die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben? Vorsichtig drehte er den Kopf und sah sich im Raum um. Er war noch immer bei van Boorst, und er war allein. Er war nicht gefesselt und konnte aufstehen, wenn er wollte.
Sein Blick folgte der Schnur, die an der Klinke der Haustür befestigt war. Sie führte gespannt durch den Raum zur Wand hinter ihm. Behutsam drehte er den Kopf in die andere Richtung. Sie führte durch einen U-förmigen Nagel, der hinter seinem Kopf in der Wand steckte und von dort zu seinem Mund. Zu dem Leopoldsapfel. Er war festgebunden. Die Tür ging nach außen auf, so dass der Erstbeste, der sie öffnete, den Nadelmechanismus auslösen würde, der dann von innen seinen Kopf perforierte. Das Gleiche würde geschehen, wenn er sich selbst zu sehr bewegte.
Harry schob Daumen und Zeigefinger in die Mundwinkel und tastete nach den Noppen. Versuchte vergeblich, einen Finger unter eine von ihnen zu bekommen. Er musste husten, und ihm wurde schwarz vor Augen, als er keine Luft bekam. Durch den Druck der Noppen waren die Schleimhäute an seiner Luftröhre angeschwollen, so dass er Gefahr lief zu ersticken. Die Schnur zur Türklinke. Der abgetrennte Finger. War das ein Zufall, oder kannte Tony Leike den Schneemann? Wollte er ihn noch übertreffen?
Harry trat gegen die Wand und spannte seine Stimmbänder, aber die Metallkugel erstickte sein Schreien. Er gab auf. Lehnte sich seitlich an die Wand, rüstete sich gegen die Schmerzen und presste den Mund zusammen. Irgendwo hatte er gelesen, dass der Biss eines Menschen nur wenig schwächer war als der eines weißen Hais. Trotzdem gelang es den Kiefermuskeln nur für einen kurzen Moment und nicht wirklich effektiv, die Noppen zurück in die Kugel zu zwingen, bevor die seine Kiefer wieder aufspannten. Das Blut pulsierte so heftig in seinem Mund, dass sich die Kugel wie ein lebendiges Herz aus Eisen anfühlte. Er tastete nach dem Draht, der aus seinem Mund hing. All seine Instinkte schrien danach, an dem Draht zu ziehen und die verdammte Kugel aus seinem Mund zu reißen. Aber er hatte demonstriert bekommen, was geschehen würde, und erinnerte sich noch gut an die Tatortfotos. Wäre dem nicht so …
Im selben Augenblick wurde Harry alles klar. Plötzlich wusste er nicht nur, wie er sterben würde, sondern auch, wie die anderen gestorben waren. Und warum auf diese Weise. Er spürte den absurden Drang zu lachen. Es war teuflisch einfach. So teuflisch einfach, dass nur der Teufel selbst dahinterstecken konnte.
Tony Leikes Alibi. Er hatte keinen Helfer gehabt. Das heißt, seine Opfer hatten ihm selbst geholfen. Als Borgny und Charlotte allein aufwachten, nachdem sie betäubt worden waren, wussten sie ja nicht, was sich in ihrem Mund befand. Borgny war in einem Keller eingesperrt gewesen. Charlotte hatte sogar im Freien gelegen, aber der Draht ihrer Kugel war in dem geschlossenen Kofferraum des Autowracks vor ihr verschwunden, und sosehr sie auch versucht hatte, die Klappe zu öffnen, sie war verschlossen geblieben. Keine von beiden hatte eine Chance gehabt, sich zu befreien, und als ihre Schmerzen unerträglich wurden, hatten sie das Vorhersagbare getan und an der Schnur gezogen. Hatten sie geahnt, was geschehen würde? Hatten die Schmerzen die Zweifel und die bösen Vorahnungen in Hoffnung verwandelt? Hoffnung, dass die Noppen wieder in diese geheimnisvolle Kugel zurückgleiten würden?
Während die Frauen langsam, aber sicher, hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zu der unausweichlichen Handlung getrieben wurden, hatte Tony Leike viele Kilometer
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