Leopard
gespeichert, seine Augen lachten irgendwie weiter. Das war unheimlich.«
Sie schüttelte sich.
»Es war in den Sommerferien, an einem strahlend schönen Tag, wie Even ihn nicht besser hätte machen können. Wir waren in unserem Sommerhaus auf Tjøme. Ich war gleich nach dem Aufstehen in den Laden gegangen, um Erdbeeren zu kaufen. Als ich zurückkam, war das Frühstück fertig, und Mama rief ins obere Stockwerk, dass Even runterkommen sollte. Aber er reagierte nicht. Wir dachten, er schliefe noch, manchmal pennte er bis mittags. Ich ging nach oben, um etwas aus meinem Zim mer zu holen, und als ich an seinem Zimmer vorbeikam, klopfte ich an die Tür und rief ›Erdbeeren‹. Ich horchte immer noch auf eine Antwort, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Wenn du dein eigenes Zimmer betrittst, schaust du dich nicht um, du siehst nur dorthin, wo du hinwillst, zum Nachttisch, auf dem das Buch liegt, das du holen wolltest, oder zur Fensterbank, wo die Schachtel mit den Blinkern steht. Ich habe ihn nicht gleich gesehen, mir ist aber aufgefallen, dass das Licht im Zimmer irgendwie anders war. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah zuerst nur seine nackten Füße. Diese Füße kannte ich in- und auswendig. Er hat mir immer eine Krone gezahlt, damit ich sie kitzelte, das liebte er. Mein erster Gedanke war, dass er flog, dass er es endlich geschafft hatte. Dann wanderte mein Blick nach oben. Er trug den blauen Pullover, den ich ihm gestrickt hatte. Er hatte sich mit einem Verlängerungskabel an der Lampe aufgehängt. Er muss gewartet haben, bis er gehört hat, dass ich aufgestanden bin und das Haus verlassen habe, bevor er in mein Zimmer gegangen ist. Ich wollte weglaufen, konnte mich aber nicht rühren, meine Füße waren wie am Boden festgeschraubt. Ich stand da und starrte ihn an, er hing direkt vor mir. Ich rief nach Mama, tat alles, was man tun musste, um einen Ruf zu formen, aber es kam kein Laut aus meinem Mund.«
Kaja beugte den Kopf nach vorn und streifte die Zigarette ab. Atmete zitternd ein.
»An den Rest erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Sie gaben mir Medikamente, zur Beruhigung. Als ich drei Tage später wieder zu mir kam, hatten sie ihn bereits beerdigt. Sie sagten, es wäre gut, dass mir das erspart geblieben wäre, die Belastung wäre möglicherweise zu groß gewesen. Ich wurde krank und verbrachte den größten Teil des Sommers mit Fieber im Bett. Ich hab mich nie von dem Gedanken lösen können, dass diese Beerdigung übereilt war. Als wäre die Art, wie er gestorben ist, etwas Schändliches. Findest du nicht?«
»Hm. Du hast gesagt, er hat einen Zettel geschrieben?«
Kaja blickte über den Fjord. »Er lag auf meinem Nachttisch. Er schrieb mir, er sei unglücklich in ein Mädchen verliebt, das er niemals haben könnte, und wolle nicht mehr leben. Und er hat uns um Verzeihung für den Schmerz gebeten, den er uns damit zufügte, und gesagt, er wisse, dass wir ihn lieben.«
»Hm.«
»Ich war völlig überrumpelt. Even hatte mir nie von einem Mädchen erzählt, dabei hat er mir sonst immer alles gesagt. Wäre Roar nicht gewesen …«
»Roar?«
»Ja. In dem Sommer hatte ich meinen ersten Freund. Er war unglaublich lieb und geduldig, hat mich fast jeden Tag besucht, als ich krank war und im Fieber von Even erzählt habe.«
»Davon, was für ein überirdisch phantastischer Mensch er war.«
»Du verstehst das.«
Harry zuckte mit den Schultern. »Ich war auch nicht anders, als meine Mutter gestorben ist. Nur dass Øystein nicht so geduldig war wie Roar. Er hat mich geradeheraus gefragt, ob ich eine neue Religion gründen wolle.«
Kaja lachte leise und zog an der Zigarette. »Ich glaube, Roar hat auch irgendwann festgestellt, dass meine Erinnerung an Even alles und alle anderen verdrängte, ihn inklusive. Die Beziehung hat nicht lange gehalten.«
»Hm. Aber Even blieb.«
Sie nickte. »Hinter jeder Tür, die ich aufmachte.«
»Das ist es, oder?«
Sie nickte wieder. »Als ich aus dem Krankenhaus kam und wieder in mein Zimmer gehen wollte, konnte ich die Tür nicht aufmachen. Es ging nicht, ich war einfach nicht dazu in der Lage. Ich wusste ganz genau, dass er wieder dort hängen würde, wenn ich sie öffnete. Und dass es meine Schuld war.«
»Es ist immer unsere Schuld, oder?«
»Immer.«
»Und niemand kann uns vom Gegenteil überzeugen, nicht einmal wir selbst.« Harry schnippte den Zigarettenstummel in die Dunkelheit und zündete sich eine neue an.
Das Schiff unter ihnen hatte
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