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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Oberkellner direkt hinter ihr.
    Sie sah Harry sofort, als sie nach draußen kam. Er stand schwankend vor der niedrigen Mauer, exakt an der Stelle, an der sie das letzte Mal gestanden hatten.
    Sie stellte sich neben ihn. Auf der Mauer stand ein leeres Glas.
    »Scheint irgendwie nicht sein zu sollen, dass wir in diesem Restaurant was essen«, sagte sie. »Vorschlag?«
    Er zog die Schultern hoch und nahm einen Schluck aus einem Flachmann. »Die Bar im Savoy. Falls du nicht zu hungrig bist.«
    Sie wickelte sich fester in ihren Mantel ein. »Ich hab eigentlich gar keinen Hunger. Wie wär’s mit einer kleinen Führung, das ist doch die Gegend, in der du aufgewachsen bist. Ich bin mit dem Auto da. Du könntest mir doch die Bunker zeigen, wo ihr euch immer getroffen habt.«
    »Kalt und ungemütlich«, sagte Harry. »Und da stinkt’s nach Pisse und kalter Asche.«
    »Wir könnten zusammen rauchen«, sagte sie. »Und die Aussicht genießen. Oder hast du was Besseres vor?«
     
    Ein wie ein Weihnachtsbaum leuchtendes Kreuzfahrtschiff glitt langsam und lautlos durch die Dunkelheit über den Fjord unter ihnen in Richtung Stadt. Sie saßen direkt auf dem feuchten Beton am Rand des Bunkers, aber weder Harry noch Kaja merkten die Kälte, die ihnen unter die Haut kroch.
    »Rotwein in einem Flachmann?«, fragte sie.
    »Mehr hatte Vatterns Barfach nicht zu bieten. War eh nur der Reserveproviant. Männlicher Lieblingsschauspieler?«
    »Du zuerst«, sagte sie und nahm einen größeren Schluck.
    »Robert de Niro.«
    Sie schnitt eine Grimasse. »Analyze This? Meet the Fockers?«
    »Nach Taxi Driver und The Deer Hunter hab ich ihm ewige Treue geschworen. Und, ja, teuer dafür bezahlt. Und du?«
    »John Malkovich.«
    »Hm. Gut. Warum?«
    Sie überlegte kurz. »Ich glaube, es ist das kultivierte Böse. Ich mag das nicht als Eigenschaft, aber ich liebe die Art, wie er es verkörpert.«
    »Außerdem hat er einen femininen Mund.«
    »Ist das gut?«
    »Jepp. Die besten männlichen Schauspieler haben einen femininen Mund. Und/Oder eine hohe, feminine Stimme. Kevin Spacey, Philip Seymour Hoffman.« Harry hielt ihr die Zigarettenschachtel hin.
    »Nur, wenn du sie mir ansteckst«, sagte sie. »Diese Jungs sind aber auch nicht gerade übertrieben maskulin.«
    »Mickey Rourke. Frauenstimme. Frauenmund. James Woods. Kussmund wie eine obszöne Rose.«
    »Aber keine helle Stimme.«
    »Blökstimme. Wie ein Schaf.«
    Kaja nahm lachend die glühende Zigarette entgegen. »Hör schon auf. Die Machotypen im Film haben tiefe, raue Stimmen. Nimm Bruce Willis.«
    »Ja, nimm Bruce Willis. Rau stimmt. Aber tief? Hardly .« Harry kniff die Augen zusammen und flüsterte im Falsett über die Stadt: »From up here it doesn’t look like you’re in charge of jack shit.«
    Kaja prustete los, die Zigarette flog ihr aus dem Mund, rollte die Böschung hinunter und verschwand mit einem Funkenschwanz im Gestrüpp.
    »War ich so schlecht?«
    »Sensationell schlecht«, hickste sie. »Verflixt, jetzt hab ich den Machoschauspieler mit der femininen Stimme vergessen, der mir eingefallen war.«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Wird dir schon wieder einfallen.«
    »Even und ich hatten auch einen Platz wie diesen«, sagte Kaja und nahm eine neue Zigarette entgegen, die sie zwischen Dau men und Zeigefinger hielt wie einen Nagel, den sie einschlagen wollte. »Einen Platz für uns ganz allein, von dem wir glaubten, dass niemand ihn kannte. Da konnten wir uns verstecken und uns unsere Geheimnisse anvertrauen.«
    »Hast du Lust, mir davon zu erzählen?«
    »Wovon?«
    »Von deinem Bruder. Was ist passiert?«
    »Er ist gestorben.«
    »Das weiß ich. Ich dachte eher an den Rest.«
    »Und das wäre?«
    »Na ja. Wieso du ihn zum Beispiel so vergötterst.«
    »Tu ich das?«
    »Tust du das nicht?«
    Sie sah ihn lange an.
    »Wein«, sagte sie.
    Harry reichte ihr den Flachmann, und sie nahm einen gierigen Schluck.
    »Er hat einen Zettel hinterlassen«, sagte sie. »Even war so empfindsam und verletzlich. Es gab Phasen, da war er das Lächeln und Lachen in Person. Wo er hinkam, begann die Sonne zu scheinen. Dann lösten sich deine Probleme einfach in Wohlgefallen auf, wie … ja, wie Nebel im Sonnenschein. In seinen schwarzen Phasen war es genau umgekehrt. Dann verstummte alles um ihn herum, als läge eine unausgereifte Tragödie in der Luft. Sein Schweigen war in Moll. Schön und schrecklich zugleich, verstehst du? Aber trotzdem war es so, als hätte sein Blick etwas von dem Sonnenschein

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