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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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geeignet.«
    »Ich bin kaputt.«
    Hagen holte tief Luft. »Dann setzen wir dich wieder zusammen.«
    »Beyond repair« , sagte Harry.
    »Du bist der Einzige in diesem Land mit der Kompetenz und Erfahrung in Bezug auf Serienmorde.«
    »Flieg einen Amerikaner ein.«
    »Du weißt ganz genau, dass das so nicht funktioniert.«
    »Dann tut es mir leid.«
    »Tut es das? Zwei Menschen sind bereits tot, Harry. Junge Frauen …«
    Harry winkte ab, als Hagen seine Tasche öffnete und eine braune Mappe herausnahm.
    »Ich meine es ernst, Chef. Danke, dass ihr meinen Pass zurückgekauft habt und auch für alles andere, aber mit den blutigen Fotos und beschissenen Berichten bin ich ein für alle Mal fertig.«
    Hagen sah Harry enttäuscht an, legte ihm aber trotzdem die Mappe auf den Schoß.
    »Ich bitte dich nur, einen Blick hineinzuwerfen. Und den Mund zu halten, dass wir an diesem Fall arbeiten.«
    »Ach? Warum das denn?«
    »Das ist kompliziert. Sag es einfach niemandem, okay?«
    Das Gespräch vorne im Auto war ins Stocken geraten. Harry heftete seinen Blick auf Kajas Hinterkopf. Da Bjørn Holms Amazon aus einer Zeit stammte, in der das Wort Schleudertrauma noch nicht einmal erfunden war, fehlten die Kopfstützen, so dass Harry ungestört ihren schmalen Hals mit den hochgesteckten Haaren betrachten konnte. Fast weiße, daunenartige Härchen lockten sich an ihrem Haaransatz. Er musste plötzlich daran denken, wie verletzlich alles war, wie schnell die Dinge sich ändern konnten, wie viel im Laufe weniger Sekunden zerstört werden konnte. Aber so war das Leben: ein Verfallsprozess, die Zerstörung einer ursprünglich perfekten Sache. Die einzig spannende Frage war, ob wir jäh zerstört wurden oder langsam und allmählich. Ein trauriger Gedanke, an dem er aber trotzdem festhielt, bis sie im Ibsentunnel waren, einem grauen, anonymen Teil des städtischen Verkehrssystems, das sich an jedem anderen Ort der Welt hätte befinden können. Trotzdem spürte Harry genau an diesem Ort eine ungestüme, bedingungslose Freude darüber, wieder hier zu sein. In Oslo. Zu Hause. Das Gefühl überwältigte ihn derart, dass er für ein paar Sekunden vollkommen vergaß, warum er zurückgekehrt war.
     
    Harry starrte auf die Sofies gate 5, während der Amazon hinter ihm verschwand. Es waren mehr Graffiti an der Fassade als bei seiner Abreise, aber das Blau darunter war noch dasselbe.
    Er hatte es also abgelehnt, an diesem Fall zu arbeiten. Hatte gesagt, er sei nur wegen seines Vaters gekommen, der im Krankenhaus lag. Was er ihnen nicht gesagt hatte, war, dass er nicht einmal wissen wollte, an welcher Krankheit er litt. Denn er war nicht aus Liebe gekommen, sondern aus Scham.
    Harry sah zu den schwarzen Fenstern seiner Wohnung in der dritten Etage hinauf.
    Er schloss die Haustür auf und ging in den Innenhof. Der Müllcontainer stand an seinem gewohnten Platz. Harry schob den Deckel auf. Er hatte Hagen versprochen, einen Blick in die Mappe mit den Berichtskopien zu werfen. In erster Linie, damit sein Chef nicht das Gesicht verlor, schließlich hatte sein Pass eine Stange Geld gekostet. Harry schob die Mappe in den Schlitz zwischen zerrissene Mülltüten, aus denen Kaffeesatz, Windeln, verfaulte Früchte und Kartoffelschalen quollen. Er sog den Geruch ein und stellte fest, dass der Gestank von Müll überraschend international war.
    In seiner Wohnung war nichts angerührt worden, trotzdem hatte sich etwas verändert. Über allem lag ein pudergrauer Schimmer, als wäre der kondensierte Frostatem eines Besuchers im Raum hängengeblieben, nachdem er die Wohnung verlassen hatte. Er ging ins Schlafzimmer, stellte die Tasche ab und holte die ungeöffnete Stange Zigaretten heraus. Auch hier schimmerte es grau, grau wie die Haut einer zwei Tage alten Leiche. Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen und schloss die Augen. Begrüßte die vertrauten Geräusche. Das Tropfen aus der löcherigen Dachrinne auf das Blech der Fenstersimse. Nicht das langsame, be ruhigende Tropfen auf dem Dach in Hongkong, sondern ein hektisches Trommeln, irgendwo zwischen Rauschen und Tropfen, das ihn daran erinnerte, wie schnell die Zeit verging, die Sekunden dem Ende entgegenrasten. In diesen Momenten musste er an La Linea denken, die italienische Zeichentrickfigur, die immer nach vier Minuten abstürzte, von der Bildfläche verschwand, wenn der Strich des Zeichners, ihres Schöpfers, abbrach.
    Harry wusste, dass im Schrank unter dem Spülbecken eine halbvolle Flasche Jim Beam stand.

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