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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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und blinzelte in den grauen Himmel.
    Er winkte ein freies Taxi heran, das vor ihm am Bürgersteig hielt. Der Fahrer lehnte sich schräg nach hinten und öffnete die hintere Tür. Eine Geste, die man heute nur noch selten sah. Harry entschloss sich, sie später mit einem Trinkgeld zu belohnen. Nicht nur, weil ihm das das Einsteigen erleichterte, sondern auch, weil sich in der Scheibe der Taxitür gerade das Gesicht eines Mannes gespiegelt hatte, der in einem Auto hinter Harry saß.
    »Reichshospital«, sagte Harry und schob sich in die Mitte der Rückbank.
    »Wie Sie wünschen«, sagte der Fahrer.
    Harry warf einen Blick in den Spiegel, als sie vom Straßenrand losfuhren. »Ach nein, fahren Sie vorher noch in die Sofies gate 5.«
    Das Taxi wartete mit laut brummendem Dieselmotor vor dem Haus, während Harry mit langen, raschen Schritte die Treppe hochstürmte und im Kopf diverse Alternativen durchspielte: Die Triaden? Herman Kluit? Oder die gute alte Paranoia? Die Ausrüstung lag noch immer dort, wo er sie vor seiner Abreise versteckt hatte, in der Werkzeugkiste im Brotschrank. Der gute alte, längst abgelaufene Polizeiausweis. Zwei Paar Hiatts-Handschellen mit gefedertem Arm für das Speedcuffing, und sein Dienstrevolver, eine Smith & Wesson Kaliber .38.
    Als Harry wieder nach unten auf die Straße kam, blickte er weder nach links noch nach rechts, sondern setzte sich direkt ins Taxi.
    »Reichshospital?«, fragte der Fahrer.
    »Fahren Sie auf jeden Fall schon mal in die Richtung«, antwortete Harry und studierte den Spiegel, als sie in die Stensberggata und weiter in Richtung Ullevålsveien fuhren. Er sah nichts. Was zweierlei bedeuten konnte. Entweder es war die gute alte Paranoia, oder der Typ war gut.
    Harry zögerte, sagte dann aber: »Reichshospital.«
    Er behielt den Rückspiegel im Auge, als sie an der Vestre Aker Kirche und am Ullevål-Krankenhaus vorbeifuhren. Er durfte sie auf keinen Fall direkt zu seinem wirklich wunden Punkt führen. Dorthin, wohin immer alle vorzudringen versuchten. Zur Familie.
    Das größte Krankenhaus des Landes lag auf einer Anhöhe über der Stadt.
    Harry bezahlte den Fahrer, der sich für das Trinkgeld bedankte und ihm wieder die Tür öffnete.
    Die Fassaden, die vor Harry in die Höhe ragten, waren so hoch, dass die niedrig hängenden Wolken fast das Dach abzuschleifen schienen.
    Er atmete tief ein.
     
    Als er sah, wie sanft und kraftlos Olav Hole ihn von seinem Krankenhauskissen anlächelte, musste Harry schlucken.
    »Ich war in Hongkong«, antwortete er. »Ich musste nachdenken.«
    »Und, hat es was genützt?«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Was sagen die Ärzte?«
    »So wenig wie möglich. Sicher kein gutes Zeichen, aber irgendwie ist es mir so lieber. Die Wahrheiten des Lebens zu meistern war noch nie eine der Stärken unserer Familie.«
    Harry fragte sich, ob sie über Mutter reden würden. Er hoffte nicht.
    »Hast du Arbeit?«
    Harry schüttelte den Kopf. Die Haare seines Vaters lagen ordentlich gekämmt und weiß über der Stirn des alten Mannes und wirkten auf Harry wie ein Fremdkörper. Als wären das nicht die Haare seines Vaters, sondern welche, die er wie den Pyjama und die Pantoffeln vom Krankenhaus gestellt bekommen hatte.
    »Nichts?«, fragte der Vater.
    »Ich habe ein Angebot bekommen, an der Polizeihochschule zu unterrichten.«
    Das entsprach fast der Wahrheit. Hagen hatte ihm den Job nach dem Schneemann-Fall angeboten, als eine Art Auszeit.
    »Lehrer?« Der Vater lachte leise und zurückhaltend, als würde ihn alles andere umbringen. »Ich dachte, es wäre eines deiner Prinzipien, niemals etwas zu tun, was ich getan habe?«
    »Das stimmt so nicht.«
    »Schon in Ordnung, du hast immer alles auf deine Weise gemacht. Diese Polizeisachen … Nun, ich sollte vermutlich dankbar sein, dass du es nicht so wie ich gemacht hast. Ich bin nicht gerade ein Vorbild. Du weißt, dass ich nach dem Tod deiner Mutter …«
    Harry saß erst zwanzig Minuten in dem weißen Krankenhauszimmer, spürte aber bereits den unbändigen Wunsch zu flüchten.
    »Nach dem Tod deiner Mutter ist mir irgendwie alles aus den Händen geglitten, ich habe mich zurückgezogen, hatte keine Freude mehr, mich mit anderen Menschen zu umgeben. Damals glaubte ich, nur in der Einsamkeit könne ich ihr wirklich nahe sein. Aber das war ein Irrtum, Harry.« Der Vater lächelte sanft wie ein Engel. »Ich weiß, der Verlust von Rakel war hart für dich, aber du darfst nicht den gleichen Fehler begehen wie ich.

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