Leopard
ich dich gefunden habe. Du hast dich nicht geregt, ich dachte, du wärst tot.«
»Und.«
»Vielleicht habe ich ja gedacht, wenn ich den Toten zuerst ausgrabe, stirbt der Lebende vielleicht in der Zwischenzeit, und dann habe ich alle Luft für mich allein. Es ist schwer zu sagen, was einen in einer solchen Situation wirklich antreibt.«
Sie antwortete nicht. Draußen näherte sich knatternd ein Motorrad, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ein Motorrad im Februar. Und heute hatte sie einen Zugvogel gesehen. Alles war aus den Fugen.
»Grübelst du immer so viel?«, fragte sie.
»Nein. Vielleicht. Ich weiß nicht.«
Sie schmiegte sich noch dichter an ihn. »Und worüber denkst du jetzt nach?«
»Woher weiß er, was er weiß?«
Sie seufzte. »Unser Mörder?«
»Und warum spielt er mit mir? Warum schickt er mir einen Körperteil von Tony Leike. Wie tickt dieser Mensch?«
»Und wie willst du das herausfinden?«
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, der auf dem Nachtschränkchen stand. Atmete tief ein und entließ die Luft mit einem langen Zischen wieder aus den Lungen. »Das ist es ja. Es gibt nur eine Lösung. Ich muss mit ihm reden.«
»Mit ihm? Dem Kavalier?«
»Mit jemandem wie ihm .«
Auf dem Weg in den Schlaf kam der Traum. Er starrte auf einen Nagel, der aus dem Kopf eines Mannes ragte. Aber in dieser Nacht kam ihm das Gesicht irgendwie bekannt vor. Ein bekanntes Bild, jemand, den er schon oft gesehen hatte. Erst vor kurzem. Der Fremdkörper in Harrys Mund explodierte, und er zuckte zusammen. Er schlief.
KAPITEL 70
Toter Winkel
H arry wurde von einem Gefängnisaufseher in Zivil durch den Krankenhauskorridor begleitet. Zwei Schrittlängen vor ihm ging die behandelnde Ärztin. Sie hatte Harry über den Zustand des Patienten informiert und ihn darauf vorbereitet, was ihn erwartete.
Sie kamen an eine Tür, die von dem Aufseher aufgeschlossen wurde. Dahinter ging der Korridor noch ein paar Meter weiter. Linker Hand waren drei Türen. Vor einer stand ein uniformierter Gefängniswärter.
»Ist er wach?«, fragte die Ärztin, während der Wärter Harry abtastete. Er nickte, legte den gesamten Inhalt aus Harrys Taschen auf den Tisch, schloss die Tür auf und trat zur Seite.
Die Ärztin signalisierte Harry, dass er draußen warten sollte, und ging mit dem Wärter hinein. Kurz darauf kam sie zurück.
»Maximal eine Viertelstunde«, sagte sie. »Er ist auf dem Wege der Besserung, aber immer noch sehr geschwächt.«
Harry nickte. Holte tief Luft. Und trat ein.
Hinter der Schwelle blieb er stehen und hörte die Tür in seinem Rücken zugleiten. Die Gardinen waren vorgezogen, und der Raum lag ganz im Dunkeln. Die einzige Lichtquelle war eine Lampe über dem Bett, deren Licht auf eine Gestalt fiel, die halb aufrecht mit gesenktem Kopf und langen strähnigen Haaren im Bett saß.
»Komm näher, Harry.« Die Stimme war verändert, klang wie das Wimmern schlecht geschmierter Türscharniere. Aber Harry erkannte sie trotzdem wieder, und sie jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.
Er trat ans Bett und setzte sich auf den Stuhl, der ihm dorthin gestellt worden war. Der Mann hob den Kopf. Und Harry hielt den Atem an.
Es sah aus, als hätte jemand flüssiges Wachs über das Gesicht gegossen, das sich zu einer zu engen Maske versteift hatte. Die Haut über der Stirn und dem Kinn wurde nach hinten gezogen, so dass der Mund eine kleine, lippenlose Höhle in einer hügeligen Landschaft verknöcherten Gewebes bildete. Er lachte in zwei abgehackten Luftstößen.
»Erkennst du mich etwa nicht wieder, Harry?«
»Ich erkenne die Augen«, sagte Harry. »Das reicht. Du bist es.«
»Was Neues von …«, der kleine, karpfenförmige Mund sah aus, als versuchte er ein Lächeln zu formen, »… unserer Rakel?«
Harry hatte sich innerlich darauf vorbereitet, wie ein Boxer auf den Schmerz. Trotzdem ballten sich seine Hände zu Fäusten, als er ihren Namen aus seinem Mund hörte.
»Du hast eingewilligt, mit mir über einen Mann zu sprechen. Einen Mann, von dem wir glauben, dass er wie du ist.«
»Wie ich? Hübscher, hoffe ich.« Wieder zwei kurze Luftstöße. »Es ist schon merkwürdig, Harry. Ich war nie eitel. Ich habe geglaubt, das Schlimmste an dieser Krankheit wären die Schmerzen. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Der körperliche Verfall. Sich selbst, dieses Monster im Spiegel heranwachsen zu sehen. Noch lassen sie mich allein auf die Toilette gehen, aber da mache ich einen Bogen um
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