Leopard
Sache: »Leike war unzweifelhaft häufiger in Ustaoset und Umgebung«, sagte sie. »Er hat in den letzten Jahren das ein oder andere Zugticket übers Internet bestellt und an der Tankstelle in Geilo mit seiner Kreditkarte bezahlt. Ebenso Lebensmittel, meistens in Ustaoset. Das Einzige, was aus dem Rahmen fällt, ist eine Quittung über Baumaterial, ebenfalls in Geilo.«
»Baumaterial?«
»Jawohl. Ich hab mich in deren Rechnungsübersicht eingeloggt. Bretter, Nägel, Werkzeug, Stahlseile, Hohlblocksteine, Zement. Für über 30 000 Kronen. Aber die Quittung ist vier Jahre alt.«
»Denkst du das Gleiche wie ich?«
»Dass er da oben einen kleinen Annex gebaut hat?«
»Er hat keine registrierte Hütte, an die er anbauen könnte, das haben wir überprüft. Aber du deckst dich nicht mit Lebensmitteln ein, wenn du in einem Hotel oder einer Touristenhütte wohnst. Ich glaube, Tony hat sich irgendwo im Nationalpark einen illegalen kleinen Unterschlupf gebaut. Er hat mir erzählt, dass das sein großer Traum war. Natürlich gut im Gelände versteckt. Ein Ort, an dem er vollkommen seine Ruhe hatte. Aber wo?« Harry stellte fest, dass er aufgestanden war und im Zimmer auf und ab ging.
»Tja, sag es mir«, sagte Katrine Bratt.
»Warte mal! Wann hat er das Zeug gekauft? In welcher Jahreszeit?«
»Sehen wir mal nach … 7. Juli steht auf dem Kassenbon.«
»Wenn die Hütte unsichtbar sein soll, muss sie ein Stück von der Straße entfernt liegen. Ein einsamer Ort ohne Wege. Hast du Drahtseile gesagt?«
»Ja. Und ich ahne auch, wofür. Als die Bergenser in den sechziger Jahren an den Wind und Wetter ausgesetzten Plätzen in Ustaoset ihre Hütten gebaut haben, haben sie Stahlseile verwendet, um ihre Hütten zu verankern.«
»Dann liegt Leikes Hütte also vermutlich an einer windigen, einsamen Stelle, zu der er Baumaterial im Wert von 30 000 Kronen transportiert hat. Das dürften ein paar Tonnen gewesen sein. Wie stellt man das an? Im Sommer, wenn kein Schnee liegt und man keinen Schneescooter benutzen kann?«
»Pferde? Ein Jeep?«
»Über Flüsse, Moore, die Berghänge hoch? Neuer Versuch.«
»Keine Ahnung.«
»Aber ich. Mir kommt da ein Foto in den Sinn. Ich melde mich wieder.«
»Warte.«
»Ja?«
»Du hast mich gebeten, Utmos Aktivitäten in den letzten Tagen seines Lebens zu überprüfen. Er hat nicht viele Spuren in der elektronischen Welt hinterlassen, wie du dir denken kannst, aber er hat ein paar Telefonate geführt. Eins seiner letzten mit Aslak Krongli. Scheint aber nur den Anrufbeantworter erreicht zu haben, wie es aussieht. Das definitiv letzte Telefonat hat er mit der SAS geführt. Ich hab ihr Bestellsystem überprüft. Er hat ein Flugticket nach Kopenhagen geordert.«
»Hm. Er schien mir nicht der Typ zu sein, der viel reist.«
»So viel ist sicher. Er hat zwar einen gültigen Reisepass, ist aber nicht in einem einzigen Ticketsystem registriert. Und das gilt für die letzten fünfundzwanzig Jahre.«
»Der Mann hat sich also so gut wie gar nicht von seinem Wohnort wegbewegt. Und plötzlich will er nach Kopenhagen. Wann wäre er denn geflogen?«
»Gestern.«
»Okay. Danke.«
Harry legte auf und schnappte sich seinen Mantel. In der Tür drehte er sich noch einmal um. Sah sie an. Die hübsche Frau, seine Schwester. Wollte sie fragen, ob sie allein zurechtkam, ohne ihn. Konnte die idiotische Frage aber gerade noch herunterschlucken. Wann war sie nicht ohne ihn zurechtgekommen?
»Tschüs«, sagte er.
Jens Rath stand an der Rezeption des Gemeinschaftsbüros. Sein Rücken war schweißnass. Er war in seinem Büro angerufen worden, dass er Besuch von der Polizei hatte. Ein paar Jahre zuvor war die Behörde für Wirtschaftskriminalität auf ihn aufmerksam geworden, aber die Ermittlungen waren eingestellt worden. Trotzdem brach ihm noch immer der kalte Schweiß aus, wenn er irgendwo ein Polizeiauto sah. In diesem Moment spürte Jens Rath, wie sich seine Schweißporen weit öffneten. Er war klein und musste zu dem Polizisten aufsehen, der sich von einem Stuhl erhoben hatte. Er überragte Jens um mindestens einen Viertelmeter und begrüßte ihn mit einem festen, kurzen Händedruck.
»Harry Hole, Mord… Kriminalamt. Es geht um Tony Leike.«
»Gibt’s was Neues?«
»Können wir uns setzen, Rath?«
Sie nahmen in Le-Corbusier-Sesseln Platz, und Rath gab Wenche an der Rezeption diskret zu verstehen, dass sie ihnen keinen Kaffee servieren sollte, wie sonst bei Investorenbesuchen üblich.
»Ich möchte,
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