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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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dachte an das Leben, wie gerne sie es gelebt hätte. Sie wollte in Länder reisen, die sie noch nicht kannte, miterleben, wie ihre Nichten heranwuchsen und die Welt endlich Vernunft annahm.
    Es war ein Messer gewesen, dessen Klinge im Licht der Laternen geglänzt hatte, als es an ihre Kehle geführt wurde. Man sagt, Angst wecke ungeahnte Kräfte. Ihr hatte sie alle Kraft geraubt, jedwede Möglichkeit, etwas zu tun. Der Gedanke, der Stahl könne in ihren Körper eindringen, hatte sie in ein zitterndes, willenloses Bündel verwandelt. Deshalb hatte sie es auch nicht geschafft, über den Zaun zu klettern, wie es ihr befohlen worden war. Sie war zu Boden gestürzt und wie ein Sitzsack liegen geblieben, tränenüberströmt. Weil sie wusste, was geschehen würde. Und weil sie alles tun würde, um nicht aufgeschlitzt zu werden. Weil sie so gerne noch ein bisschen weiterleben wollte. Ein paar Jahre, ein paar Minuten, es war das immer gleiche Rechenstück, die gleiche blinde, gestörte Rationalität, die einen antrieb.
    Sie hatte argumentiert, dass sie es nicht über den Zaun schaffen würde, und den Befehl vergessen, ihren Mund zu halten. Das Messer war daraufhin wie eine Schlange auf sie zugeschnellt und in ihren Mund eingedrungen. Die Klinge hatte sich knirschend zwischen ihren Zähnen gedreht, ehe sie wieder aus ihrem Mund gezogen worden war. Ihre Mundhöhle hatte sich augenblicklich mit Blut gefüllt, während die Stimme hinter der Maske sie flüsternd vor sich her am Zaun entlang durch das Dunkel gestoßen hatte. Zu einer Stelle, an der der Zaun hinter einem Busch ein großes Loch hatte, durch das sie gedrückt worden war.
    Marit Olsen schluckte das Blut, das noch immer in ihren Mund lief, und starrte auf die leeren Tribünen unter ihr, die ebenfalls im blauen Mondlicht badeten. Die ganze Szenerie erinnerte sie an ein Gerichtsverfahren ohne Zuschauer und Geschworene, nur mit einem Richter. Eine Hinrichtung ohne Mob, nur mit Henker. Ein letzter öffentlicher Auftritt, der niemanden interessierte. Marit Olsen dachte, dass ihr im Tod wie im Leben die Ausstrahlung fehlte, die Signalwirkung. Und nun vermochte sie nicht einmal mehr zu reden.
    »Spring.«
    Sie sah, wie schön der Park war, sogar jetzt im Winter. Sie wünschte sich, die Uhr am Ende des Schwimmerbeckens würde gehen, damit sie die Sekunden des Lebens sehen konnte, die sie gerade stahl.
    »Spring«, hieß es erneut hinter ihr. Er musste die Maske abgenommen haben, denn der Klang seiner Stimme hatte sich verändert. Plötzlich wusste sie, wer er war. Sie drehte den Kopf zur Seite und starrte ihn schockiert an. Dann spürte sie einen Fuß in ihrem Rücken. Sie schrie. Der Boden unter ihren Füßen war mit einem Mal weg, und für einen kurzen Augenblick der Überraschung fühlte sie sich schwerelos. Aber die Erde zog sie an, ihr Körper beschleunigte, und ihr war klar, dass die blauweißen Fliesen des Beckens, die ihr entgegenrasten, sie zerschmettern würden.
     
    Drei Meter über dem Beckenboden straffte sich das Seil um Marit Olsens Hals und Nacken. Das Tau war von alter Machart, gedreht aus den Bastfasern von Linden und Ulmen, und hatte keinerlei Elastizität. Marit Olsens gewaltiger Körper wurde nicht nennenswert abgebremst, riss sich vom Kopf los und klatschte mit einem dumpfen Dröhnen auf den Boden des Beckens. Kopf und Hals hingen noch im Seil. Ohne viel Blut. Schließlich kippte der Kopf nach vorn, glitt aus der Schlinge, fiel auf Marit Olsens blaue Trainingsjacke und kollerte über die Fliesen des Beckens.
    Danach war es wieder still im Bad.

TEIL I I

KAPITEL 10
     
    Mahnung
     
    U m drei Uhr nachts gab Harry das Projekt Schlafen auf und stieg aus dem Bett.
    Er drehte den Wasserhahn in der Küche auf und hielt ein Glas darunter, bis das Wasser kalt über sein Handgelenk rieselte. Sein Kiefer schmerzte. Er hatte den Blick auf die zwei Fotografien geheftet, die über der Arbeitsplatte hingen. Eine davon hatte ein paar hässliche Knicke und zeigte Rakel in einem hellblauen Sommerkleid. Aber es war nicht Sommer, das Laub der Bäume hinter ihr erstrahlte in Herbstfarben. Rakels schwarze Haare fielen über nackte Schultern, und ihr Blick schien jemanden hinter der Linse zu suchen, vielleicht den Fotografen. Hatte er selbst das Bild aufgenommen? Merkwürdig, dass er sich nicht mehr daran erinnerte.
    Das andere Foto war von Oleg. Beim Eisschnelllauftraining, aufgenommen im letzten Winter mit Harrys Handy im Eisstadion Valle Hovin. Noch ein schmächtiger Junge,

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