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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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in Höhe der Stirn des Mannes befand, und schob den Hahn nach hinten.
    »Vermutlich halten Sie mich für eine ganz normale, zurechnungsfähige Person, Jussi. Nun, ich kann Ihnen sagen, wie zu rechnungsfähig ich bin. Mein Vater liegt da drinnen hilflos auf einem Krankenbett, Sie haben das herausgefunden, und ich habe damit ein Problem. Das wohl nur auf eine Weise zu lösen ist. Zum Glück sind Sie bewaffnet, so dass ich der Polizei sagen kann, es sei Notwehr gewesen.«
    Harry drückte den Hahn noch weiter zurück. Und spürte die altbekannte Übelkeit in sich aufsteigen.
    »Kriminalamt.«
    Harry nahm den Finger vom Abzug. »Repeat?«
    »Ich bin vom Kriminalamt.« Sein Schwedisch hatte genau den finnischen Akzent, über den man so gerne Witze machte.
    Harry starrte den Mann an, zweifelte aber keine Sekunde daran, dass er die Wahrheit sagte. Trotzdem war es vollkommen unbegreiflich.
    »In der Brieftasche«, zischte der Finne, ohne dass die Wut, die in seiner Stimme mitschwang, seine Augen erreichte.
    Harry öffnete die Brieftasche, warf erneut einen Blick hinein und zog eine laminierte Ausweiskarte heraus. Sie bot nicht viele Informationen, aber das wenige, das dort stand, reichte schon. Der Mann vor Harry war Angestellter des norwegischen Kriminalamtes, Zentraleinheit Oslo, die bei Mordfällen im ganzen Land hinzugezogen wurde und die Ermittlungen – in der Regel – leitete.
    »Was zum Henker will das Kriminalamt von mir?«
    »Frag Bellman.«
    »Wer ist Bellman?«
    Der Finne stieß einen kurzen, undefinierbaren Laut aus, bei dem es sich um Husten oder Lachen handeln konnte. »Oberkommissar Bellman, du Idiot. Mein Chef. Und jetzt mach mich los, cute boy .«
    »Verdammt«, sagte Harry und warf einen letzten Blick auf den Ausweis. »Verdammte Scheiße.« Er ließ die Brieftasche zu Boden fallen und wandte sich zur Tür.
    »He, he, hallo!«
    Das Rufen des Finnen erstarb, als die Tür hinter Harry ins Schloss fiel und er über den Flur in Richtung Ausgang ging. Der Pfleger, der bei seinem Vater gewesen war, kam ihm entgegen und nickte ihm lächelnd zu, als er nah genug war. Harry warf ihm den kleinen Schlüssel der Handschellen zu.
    »Auf dem Klo steht ein Exhibitionist, Altman.«
    Der Pfleger fing den Schlüssel automatisch mit beiden Händen auf. Harry spürte den fragenden Blick des Mannes auf seinem Rücken, bis er durch die Tür war.

KAPITEL 9
     
    Kopfsprung
     
    E s war abends, Viertel vor elf. Die Temperatur betrug noch immer neun Grad plus, und für den nächsten Tag hatte der Wetterbericht, wie Marit Olsen sich erinnerte, noch mildere Tem pe raturen angekündigt. Im Frognerpark war kein Mensch zu sehen. Das große Freibad erinnerte sie immer irgendwie an ausgemusterte Schiffe und entvölkerte Fischersiedlungen, in denen der Wind um die Hausecken pfiff, oder an Freizeitparks außerhalb der Saison. Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit schossen ihr durch den Kopf. An die ertrunkenen, auf Tronholmen spukenden Fischer, die nachts mit Tang in den Haaren und kleinen Fischen in Mund und Nase aus dem Wasser stiegen. Gespenster, deren heisere, frostige Schreie wie die der Möwen klangen. Tote mit aufgedunsenen Gliedern, die sich in Zweigen verfingen und knirschend wieder losrissen, ohne sich von ihrem Vormarsch in Richtung des einsamen Hauses auf Tronholmen abhalten zu lassen. Tronholmen, wo Großvater und Großmutter wohnten und wo sie zitternd im Kinderzimmer gelegen hatte.
    Marit Olsen atmete. Noch atmete sie.
    Unten war es windstill, doch oben auf dem zehn Meter hohen Sprungturm spürte man die Bewegung in der Luft. Marit fühlte ihren Puls in den Schläfen, im Hals und im Schritt. In alle Glieder strömte das Blut, frisch und vital. Es war so schön zu leben. Am Leben zu sein. Sie war nicht einmal außer Atem gewesen, nachdem sie all die Stufen des Sprungturms nach oben gestiegen war, nur ihr Herz, dieser treue Muskel, hatte wild gepocht. Sie starrte in das leere Becken unter sich, das im Mondlicht unnatürlich blau schimmerte. Etwas entfernt, am Ende des Schwimmerbeckens, sah sie die große Uhr. Die Zeiger waren um zehn nach fünf stehengeblieben. Die Zeit stand still. Sie hörte die Geräusche der Stadt und sah die Lichter der Autos auf dem Kirkeveien. Zu weit entfernt, als dass jemand sie hören würde.
    Sie atmete. Und war doch tot. Hatte ein Seil, dick wie ein Schiffstau, um den Hals und hörte die Möwen kreischen, die Geister, mit denen sie bald vereint sein würde. Aber sie dachte nicht an den Tod. Sie

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