Leopard
aber wenn er weitertrainierte, würde er bald das rote Trikot ausfüllen, das Harry ihm geschenkt hatte. Was machte er wohl jetzt? Wo war er? War es Rakel gelungen, dort, wo sie jetzt waren, ein neues Zuhause für sie aufzubauen? Hatten sie einen Ort gefunden, an dem sie sich sicherer fühlten als in Oslo? Waren neue Menschen in ihr Leben getreten? Wenn Oleg müde war oder die Konzentration nachließ – sagte er dann noch immer »Papa«, wenn er von Harry redete?
Harry drehte den Hahn zu. Er spürte die Tür des Unterschranks an seinem Knie. Jim Beam flüsterte dahinter seinen Namen.
Harry zog sich eine Hose und ein T-Shirt an, ging ins Wohnzimmer und legte Miles Davis’ Kind of Blue auf. Das Original, bei dem sie das etwas zu langsam laufende Aufnahmeband noch nicht korrigiert hatten, wie eine kaum merkbare Verschiebung der Wirklichkeit.
Er lauschte einen Moment, dann drehte er die Musik lauter, damit sie das Flüstern aus der Küche übertönte. Er schloss die Augen.
Kriminalamt. Bellman.
Der Name war ihm noch nie untergekommen. Natürlich könnte er Hagen anrufen und sich erkundigen, aber dazu hatte er keine Lust. Außerdem ahnte er bereits, worum es ging, und ein unbestimmtes Gefühl riet ihm, sich da besser nicht einzumischen.
Beim letzten Lied, Flamenco Sketches , gab er es auf. Er erhob sich und verließ das Wohnzimmer in Richtung Küche. Auf dem Flur bog er nach links ab, stieg in seine Dr.-Martens-Boots und ging nach draußen.
Er fand sie unter einer zerrissenen Plastiktüte. Etwas Unbestimmbares, das wie angetrocknete Erbsensuppe aussah, bedeckte die gesamte Vorderseite der Mappe.
Er setzte sich in den grünen Ohrensessel und begann fröstelnd zu lesen.
Die erste Frau hieß Borgny Stem-Myhre, war 33 Jahre alt und stammte ursprünglich aus Levanger. Single, keine Kinder, wohnhaft in Oslo-Sagene. Sie arbeitete als Stylistin und hatte einen großen Bekanntenkreis, insbesondere unter Friseuren, Fotografen und Medienleuten aus der Modebranche. Sie war häufig zu Gast in diversen Kneipen und Restaurants, wobei sie nicht nur die hippesten Treffpunkte frequentiert hatte. Außerdem liebte sie die Natur und Wanderungen oder Skitouren von Hütte zu Hütte.
»Ihre Herkunft aus Levanger hat sie nie ganz verleugnen können«, stand in einem Bericht über die Befragung ihrer Kollegen. Wer immer das gesagt hatte, glaubte anscheinend, seine eigenen dörflichen Wurzeln besser ausgerissen zu haben.
»Wir mochten sie alle, sie war eine der wenigen echten, natürlichen Menschen in dieser Branche.«
»Es ist unbegreiflich, wir können uns gar nicht vorstellen, wer ihr nach dem Leben hätte trachten wollen.«
»Sie war zu nett. Und das haben die Männer, in die sie sich verliebt hat, alle irgendwann ausgenutzt. Bis sie nur noch ein Spielzeug war. Sie wollte einfach zu hoch hinaus.«
Harry betrachtete ein Bild von ihr. Das einzige in der Mappe, auf dem sie noch am Leben war. Sie war blond, möglicherweise gefärbt. Durchschnittlich hübsch, keine auffallende Schönheit, aber stylisch gekleidet mit Militärjacke und Rastamütze. Stylisch und naiv, passte das zusammen?
Sie war im Mono gewesen, einer Trendkneipe, in der wie jeden Monat die neue Ausgabe der Modezeitschrift Sheness lanciert wurde, gewürzt mit ein paar Vorabkostproben. Diese Veranstaltung hatte von sieben bis acht Uhr gedauert, und danach hatte Borgny einer Freundin slash Kollegin gesagt, sie wolle nach Hause, um ein Fotoshooting vorzubereiten, für das sich der Fotograf das Thema »Dschungel trifft Punk – die echten Achtziger« gewünscht hatte.
Man ging davon aus, dass sie zum nächsten Taxistand gehen wollte, aber keiner der Fahrer, der zur entsprechenden Zeit in der Nähe war (Ausdrucke der Dateien von Norgestaxi und Oslo Taxi liegen bei), hatte Borgny Stem-Myhre auf den Bildern erkannt oder eine Fahrt nach Sagene gehabt. Kurz gesagt, sie wurde von niemand mehr gesehen, nachdem sie das Mono verlassen hatte. Bis zwei polnische Maurer zur Arbeit kamen, das aufgebrochene Vorhängeschloss an der Eisentür des Kellers bemerkten und hineingingen. Borgny lag vollbekleidet in der Mitte des Raumes, in verdrehter Körperhaltung.
Harry warf einen Blick auf das Bild. Dieselbe Militärjacke. Ein Gesicht, das aussah, als wäre es weiß geschminkt worden. Blitzlichter, die scharfe Schatten an die Kellerwände warfen. Foto shooting. Stylisch.
Der Gerichtsmediziner hatte festgestellt, dass der Tod von Borgny Stem-Myhre irgendwann zwischen 22 und 23 Uhr
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