Leopard
eingetreten war. In ihrem Blut waren Spuren von Ketanomin gefunden worden, einem starken Betäubungsmittel, das schnell wirkte, auch wenn man es intramus kulär verabreichte. Aber die eigentliche Todesursache war Ertrinken, verursacht durch das Blut aus den Wunden in ihrem Mund. Und damit war er auch schon beim mysteriösesten Aspekt des Falles. Der Gerichtsmediziner hatte 24 symmetrisch verteilte Einstiche im Mund gefunden, die alle exakt sieben Zentimeter tief waren, außer denen, die das Gesicht durchbohrt hatten. Die Ermittler hatten keine Ahnung, um welche Art Waffe oder Instrument es sich handelte. So etwas war noch keinem von ihnen untergekommen. Auch technische Spuren gab es nicht; keine Fingerabdrücke, keine DNA , nicht einmal Schuh- oder Stiefelabdrücke, da der Betonboden tags zuvor für den Einbau der Heizungskabel und des Bodenbelages gereinigt worden war. In Kim Erik Lokkers Bericht, ein Gerichtsmediziner, der nach Harrys Zeit eingestellt worden sein musste, fanden sich Bilder zweier kleiner grauschwarzer Steine, die auf dem Boden gefunden worden waren, aber nicht zu dem Schotter am Tatort passten. Lokker wies darauf hin, dass sich in Stiefeln mit kräftigem Profil häufig Steine festsetzten, die erst dann wieder abfielen, wenn man damit auf hartem Untergrund, oder wie hier auf Beton, ging. Ferner enthielt der Bericht den Hinweis, dass diese Steine sehr ungewöhnlich seien, so dass sie als Indizien verwendet werden könnten, sollten im Zuge der Ermittlungen ähnliche Steinchen auftauchen, zum Beispiel im Kies einer Einfahrt. Der Bericht hatte nachträglich eine Ergänzung erhalten, aus der hervorging, dass auf der Innenseite von zwei Backenzähnen des Opfers Spuren von Eisen und Koltan gefunden worden waren.
Harry ahnte die Fortsetzung bereits. Er blätterte weiter.
Der Name der anderen jungen Frau lautete Charlotte Lolles. Französischer Vater und norwegische Mutter. Wohnhaft in Lambertseter in Oslo. Sie wurde 29 Jahre alt. Ausgebildete Juristin. Wohnte allein, hatte aber einen Lebensgefährten: einen gewissen Erik Fokkestad, der längst überprüft und als Tatverdächtiger ausgeschlossen worden war, da er zum Zeitpunkt des Mordes an einem Geologieseminar im Nationalpark Yellowstone in den USA teilnahm. Charlotte hatte vor gehabt, ihn zu begleiten, war dann aber wegen eines größeren Immobilienstreits, den sie bearbeitete, zu Hause geblieben.
Ihre Kollegen hatten sie zuletzt am Dienstagabend gegen 21 Uhr im Büro gesehen. Vermutlich war sie nie zu Hause eingetroffen. Die Aktentasche mit ihren Unterlagen war neben der Leiche hinter einem Schrottauto im Maridalen gefunden worden. Die Parteien des Verfahrens, das sie bearbeitete, hatten nachweislich nichts mit dem Mord zu tun.
Der Obduktionsbericht zeigte, dass unter Charlotte Lolles’ Nägeln Reste von Autolack und Rost gefunden worden waren, was mit den Aufzeichnungen vom Tatort übereinstimmte. Es waren Kratzspuren rund um das Schloss des Kofferraums entdeckt worden, als hätte sie diesen zu öffnen versucht. Nähere Untersuchungen des Schlosses zeigten im Übrigen, dass dieses mindestens einmal mit einem Brecheisen aufgebrochen worden war. Sicher aber nicht von Charlotte Lolles. Harry nahm an, dass sie an irgendetwas angekettet gewesen war, das im Kofferraum lag, und deshalb versucht hatte, diesen zu öffnen. Vermutlich hatte der Mörder diesen Gegenstand anschließend mitgenommen. Aber was? Wie? Und warum?
Eine Kollegin aus der Kanzlei hatte sich laut Protokoll wie folgt geäußert: »Charlotte war eine ambitionierte Frau, sie hat immer bis spätabends gearbeitet. Wie effektiv sie dabei war, weiß ich nicht. Sie war immer freundlich, aber nicht so offen, wie man es bei ihrem Lächeln und ihrem südländischen Aussehen vermuten würde. Eigentlich sogar ein bisschen introvertiert. Von ihrem Lebensgefährten hat sie uns zum Beispiel nie etwas erzählt. Aber die Chefs mochten sie.«
Harry stellte sich vor, wie diese Kollegin Charlotte ein intimes Detail nach dem anderen anvertraute, zur Antwort aber nur ein unverbindliches Lächeln erntete. Sein Ermittlerhirn schaltete auf Autopilot; vielleicht hatte Charlotte sich bewusst von diesen aufdringlichen Kolleginnen distanziert, vielleicht hatte sie etwas zu verbergen, vielleicht …
Harry sah sich die Fotos an. Etwas harte, aber schöne Züge. Dunkle Augen, ein bisschen wie die Augen von … verdammt! Er kniff die Lider zusammen. Öffnete sie wieder. Blätterte weiter bis zum Bericht des
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