Leopard
Du darfst dich nicht abkapseln, Harry, nicht die Tür abschließen und den Schlüssel wegwerfen.«
Harry blickte auf seine Hände, nickte und spürte Ameisen über seinen ganzen Körper krabbeln. Er brauchte etwas, irgendetwas.
Ein Pfleger kam herein, stellte sich als Altman vor, hielt eine Spritze hoch und sagte mit leichtem Lispeln, dass er »Olav« nur kurz etwas zum Schlafen geben müsse. Harry hätte ihn am liebsten gefragt, ob er nicht auch etwas bekommen könne.
Als sein Vater sich auf die Seite drehte, hing die Haut seines Gesichts schlaff herab, und er sah mit einem Mal deutlich älter aus. Er sah Harry mit schwerem, glänzendem Blick an.
Die Stuhlbeine kratzten laut über den Boden, als Harry abrupt aufstand.
»Wohin willst du?«, murmelte sein Vater.
»Nach draußen, eine rauchen«, sagte Harry. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Harry stellte sich an eine niedrige Mauer, von der aus er den Parkplatz überblicken konnte, und zündete sich eine Camel an. Auf der anderen Seite der Autobahn lag Blindern mit den Uni versitätsgebäuden, in denen sein Vater studiert hatte. Es gab Menschen, die davon überzeugt waren, Söhne wären die mehr oder minder verkleideten Varianten ihrer Väter. Sie hielten das Gefühl, ausgebrochen zu sein, für blanke Illusion und waren der Meinung, dass man immer zurückkehrte, weil die Schwerkraft des Blutes nicht nur stärker als der eigene Wille, sondern der Wille selbst sei. Harry hatte sich immer für den lebenden Beweis des Gegenteils gehalten. Aber warum hatte er dann beim Anblick des abgemagerten, nackten Gesichtes auf dem Kissen das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu blicken? Warum waren ihm die Worte des Vaters wie die seinen erschienen? Seine Gedanken …? Wie ein Zahnarztbohrer hatten sie zielsicher Harrys Nerv getroffen. Weil er eine Kopie war. Verdammt! Harrys Augen hatten auf dem Parkplatz einen weißen Corolla entdeckt.
Immer waren sie weiß, das war die unauffälligste Farbe. Wie der Corolla draußen vor dem Schrøders, hinter dessen Scheibe er dasselbe Gesicht erkannt hatte, aus dem ihn kaum einen Tag zuvor leicht schräg stehende Augen angesehen hatten.
Harry warf die Zigarette weg und hastete wieder nach drinnen. Mäßigte seine Schritte, als er auf den Flur kam, auf dem sein Vater lag. Er bog ab, als der Korridor sich zu einer Art Warteraum weitete, und tat so, als suchte er sich aus einem Stapel Zeitungen die richtige aus, während er aus den Augenwinkeln die Menschen musterte, die dort saßen.
Der Mann hatte sich hinter einer Ausgabe der Liberal versteckt.
Harry nahm eine Frauenzeitschrift mit, auf deren Titelseite Lene Galtung und ihr Verlobter zu sehen waren, und ging.
Olav Hole lag mit geschlossenen Augen da. Harry bückte sich und hielt das Ohr vor den Mund seines Vaters. Sein flacher Atem war kaum zu hören, aber er spürte einen Luftstrom auf der Haut.
Er blieb eine Weile auf dem Stuhl neben dem Bett sitzen und betrachtete seinen Vater, während seine Gedanken wahllos eine schlecht redigierte Bilderfolge aus seiner Kindheit abspulten. Der einzige Zusammenhang schien darin zu bestehen, dass er, Harry Hole, sich an diese Sachen erinnerte.
Dann stellte er den Stuhl an die Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und wartete.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis er den Mann aus dem Warteraum über den Flur gehen sah. Der kleine, gedrungene Mann hatte ungewöhnlich starke O-Beine, so dass es beinahe so aussah, als klemmte beim Gehen ein Wasserball zwischen seinen Knien. Bevor er durch die Tür mit dem international verständlichen Zeichen für die Herrentoilette trat, zog er seinen Gürtel hoch. Als hinge etwas Schweres daran.
Harry stand auf und ging ihm nach.
Vor der Tür der Toilette blieb er stehen und holte tief Luft. Es war schon eine ganze Weile her. Dann schob er die Tür auf und schlüpfte hinein.
Die Toilette war so wie das ganze Krankenhaus: sauber, modernes Design, neu und überdimensioniert. An einer Längsseite befanden sich sechs Toilettenkabinen, deren Schlösser zeigten, dass keine von ihnen besetzt war. An der hinteren Schmalseite waren vier Waschbecken angebracht, und auf der anderen Längsseite hingen in Hüfthöhe vier Porzellanurinale. Der Mann stand an einem davon und drehte Harry den Rücken zu. Über ihm an der Wand verlief längs eine solide aussehende Wasser leitung. Solide genug. Harry nahm den Revolver und die Handschellen heraus. Es gehört international zum guten Ton, sich auf Herrentoiletten nicht anzusehen.
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