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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hat einen Anruf erhalten, dass das Ministerium es begrüßen würde, wenn das Kriminalamt diesen Fall übernimmt, bis die Frage der Zuständigkeit endgültig geklärt ist.«
    Harry schüttelte langsam den Kopf. »Allmählich beginnt es mir zu dämmern. Ihr seid verzweifelt …«
    »So würde ich es nicht nennen.«
    »Verzweifelt genug, um den guten alten Serienmörderjäger Harry Hole auszugraben. Einen Outsider, der nicht mehr auf der Lohnliste steht und der den Mord in aller Stille untersuchen kann. Deshalb sollte ich niemandem etwas sagen.«
    Hagen seufzte. »Bellman hat es, allem Anschein nach, trotzdem herausgefunden. Und dich beschatten lassen.«
    »Um zu überprüfen, ob ihr euch an die höfliche Bitte des Justizministeriums haltet, mich auf frischer Tat zu ertappen, wenn ich alte Berichte lese oder längst befragte Zeugen besuche.«
    »Oder noch effektiver: dich aus dem Verkehr zu ziehen. Bellman weiß ganz genau, dass der kleinste Fehltritt reicht. Ein Bier im Dienst oder ein Verstoß gegen die Dienstvorschrift, und du bist suspendiert.«
    »Hm. Oder der Widerstand gegen eine Festnahme. Der Arsch hat sicher vor, die Sache weiterzuverfolgen.«
    »Ich werde mit ihm reden. Er wird sich nicht weiter darum kümmern, wenn ich ihm sage, dass du ohnehin nicht an dem Fall arbeiten willst. Wir ziehen keine Polizisten in den Dreck, wenn es keinen guten Grund dafür gibt.« Hagen sah auf die Uhr. »Ich habe noch zu tun, komm, jetzt holen wir dich erst mal hier raus.«
     
    Sie verließen den Polizeigewahrsam, gingen über den Parkplatz und blieben vor dem Eingang des Präsidiums stehen, das wie ein Koloss aus Beton und Stahl am oberen Ende des Parks thronte. Daneben und durch einen unterirdischen Gang mit dem Präsidium verbunden, lagen die alten grauen Mauern des Osloer Kreisgefängnisses Botsen. Unter ihnen erstreckte sich der Stadtteil Grønland, der bis hinunter zum Fjord mit dem Hafen reichte. Die Fassaden waren winterblass und schmutzig, als hätte es Asche geregnet. Unten am Hafen zeichneten sich die Baukräne wie Galgen vor dem Himmel ab.
    »Kein schöner Anblick, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte Harry und sog die Luft ein.
    »Aber diese Stadt hat trotzdem was.«
    Harry nickte. »Das stimmt.«
    Sie standen eine Weile mit den Händen in den Taschen da und wippten auf ihren Füßen.
    »Es ist kalt«, sagte Harry.
    »Eigentlich nicht.«
    »Tja, mein Thermostat ist noch immer auf Hongkong eingestellt.«
    »Ja dann.«
    »Hast du vielleicht ’ne Tasse Kaffee da oben?« Harry blickte in Richtung des sechsten Stockwerks. »Oder wartet Arbeit auf dich? Vielleicht der Marit-Olsen-Fall?«
    Hagen antwortete nicht.
    »Hm«, sagte Harry. »Dann haben sich Bellman und das Kriminalamt den also auch unter den Nagel gerissen.«
     
    Als sie über den Flur der roten Zone der sechsten Etage liefen, wurde Harry vereinzelt, aber recht zurückhaltend gegrüßt. Auch wenn er in diesem Haus als Legende galt, war er nie sonderlich beliebt gewesen.
    Sie gingen an einer Bürotür vorbei, an der ein A4-Zettel mit der Aufschrift I SEE DEAD PEOPLE klebte.
    Hagen räusperte sich. »Ich musste Magnus Skarre dein Büro überlassen, alles ist überfüllt.«
    »Ausgerechnet«, sagte Harry.
    In der Teeküche holten sie sich jeder einen Pappbecher mit dem berüchtigten Kaffee und gingen in Hagens Büro. Harry nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Oberkommissars Platz, auf dem er schon so oft gesessen hatte.
    »Den hast du ja noch immer«, sagte Harry und blickte auf den Schreibtisch, auf dem etwas stand, das auf den ersten Blick wie ein weißes Ausrufezeichen aussah. Es war ein kleiner Fingerknochen. Harry wusste, dass er einem japanischen Kommandanten aus dem Zweiten Weltkrieg gehört hatte, der sich bei einem Rückzug vor den Augen seiner Leute den kleinen Finger abgehackt hatte, um sich so dafür zu entschuldigen, dass sie nicht zurückgehen und ihre Gefallenen holen konnten. Hagen nutzte diese Geschichte gerne, wenn er seine Unterabteilungsleiter über die richtige Führung belehrte.
    »Und du noch immer nicht.« Hagen deutete auf Harrys mittelfingerlose Hand, die den Pappbecher hielt.
    Harry nickte und trank. Auch der Kaffee schmeckte wie immer, nach geschmolzenem Asphalt.
    Harry schnitt eine Grimasse. »Ich brauche ein Team von drei Personen.«
    Hagen trank langsam und stellte den Becher ab. »Mehr nicht?«
    »Das fragst du immer. Du weißt doch, dass ich nicht mit großen Ermittlungsgruppen arbeite.«
    »In diesem Fall ist mir das sogar

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