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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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bei dem er irgendwie gelandet war, oder auf den kalten Bunkerbeton.
    »Das Leben ist echt ungerecht«, sagte Øystein. »Dein Vater hat nie was getrunken, machte sonntags lange Spaziergänge und hat als Lehrer gearbeitet. Während mein Vater gesoffen hat wie ein Loch, in der Kadokfabrik arbeitete, in der alle Asthma oder seltsame Allergien bekamen, und sich keinen Millimeter mehr rührte, wenn er erst zu Hause auf dem Sofa lag. Und der ist heute fit wie ein Fisch im Wasser.«
    Harry erinnerte sich an die Kadokfabrik. Kodak rückwärts. Der Besitzer, ein Typ aus Sunnmøre, hatte irgendwo gelesen, dass Eastman seine Kamerafabrik Kodak genannt hatte, weil man diesen Namen in Erinnerung behielt und ihn überall auf der Welt aussprechen konnte. Aber Kadok war seit vielen Jahren stillgelegt und vergessen.
    »Alles verschwindet«, sagte Harry.
    Øystein nickte, als wäre er seinen Gedanken gefolgt.
    »Ruf mich an, wenn was ist, Harry.«
    »Mach ich.«
    Harry wartete, bis er hörte, wie sich die Reifen auf dem Kies entfernten, ehe er die Tür aufschloss und nach drinnen ging. Er schaltete das Licht ein und blieb stehen, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Der Geruch, die Stille, das Licht, das auf den Garderobenschrank fiel: All das sprach zu ihm. Es war ein bisschen so, wie in ein Becken voller Erinnerungen zu tauchen. Sie umfingen ihn, wärmten ihn, schnürten ihm den Hals zu. Er zog seinen Mantel aus und streifte die Schuhe von den Füßen. Dann begann er seine Runde. Von Zimmer zu Zimmer. Von Jahr zu Jahr. Von Mutter und Vater zu Søs und zum Schluss zu sich selbst. Ins Kinderzimmer. Das Zimmer seiner Jugend. Das Clash-Plakat mit der Gitarre, die gleich auf dem Boden zertrümmert werden würde. Er legte sich aufs Bett und sog den Geruch der Matratze ein. Und dann kamen die Tränen.

KAPITEL 2 1
     
    Schneeweißchen
     
    E s war zwei Minuten vor 20 Uhr, als Mikael Bellman die Karl Johans gate hinunterging, eine der bescheideneren Paradestraßen dieser Welt. Er befand sich inmitten des Königreiches Norwegen, am eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Landes. Zu seiner Linken lagen Universität und Wissen, zu seiner Rechten das Nationaltheater und die Kultur. Hinter ihm im Schlosspark thronte das Königshaus, und direkt vor ihm lag die Macht. Dreihundert Schritte später, um exakt 20 Uhr, stieg er die Steintreppe zum Storting hoch. Das Gebäude war, wie fast alles in Oslo, nicht sonderlich groß oder imposant. Und auch nicht wirklich gut geschützt. Die einzige Security waren die beiden aus Grorudgranit gehauenen Löwen, die rechts und links von der kleinen Anhöhe standen, von der aus die Treppe zum Eingang führte.
    Bellman ging zur Tür, die sich lautlos öffnete, noch ehe er sie aufdrücken konnte. Er kam an eine Rezeption, blieb stehen und sah sich um. Ein Sicherheitsbeamter tauchte vor ihm auf, nickte ihm zu und gab ihm freundlich, aber bestimmt zu verstehen, dass er einen Metallscanner der Marke Gilardoni passieren sollte. Zehn Sekunden später hatte dieses Gerät festgestellt, dass Mikael Bellman nicht bewaffnet war, allerdings Metall an seinem Gürtel hatte.
    Rasmus Olsen lehnte wartend am Tresen der Rezeption. Marit Olsens dünner Ehemann begrüßte ihn per Handschlag und ging dann vor, um ihm den Weg zu zeigen, wobei er aus Gewohnheit wie ein Fremdenführer redete.
    »Das Storting, 380 Angestellte, 169 Volksvertreter. Erbaut 1866 nach einem Modell von Emil Victor Langlet. Übrigens, ein Schwede. Das hier ist das Treppenhaus. Das steinerne Mosaik heißt Gesellschaft und stammt von Else Hagen aus dem Jahr 1950. Das Porträt der Könige ist von …«
    Sie kamen in die Wandelhalle, die Mikael aus dem Fernsehen kannte. Ein paar Gesichter hasteten vorbei, er erkannte aber niemanden. Rasmus erklärte ihm, dass gerade eine Ausschusssitzung stattgefunden habe, aber Bellman hörte ihm nicht zu. Seine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass er sich hier auf dem Korridor der Macht befand. Er war enttäuscht. Zwar glänzte hier manches golden und rot, aber wo war das Grandiose, das Offizielle, das den Entscheidungsträgern Ehrfurcht einflößte? Diese verdammte, allgegenwärtige bescheidene Nüchternheit war eine Plage, von der sich die vormals so arme Demokratie im Norden Europas einfach nicht frei machen konnte. Trotzdem war er zurückgekommen. Wenn es ihm zwischen den Wölfen von Europol auch nicht gelungen war, ganz bis an die Spitze vorzudringen, würde er es hier auf alle Fälle schaffen, im Konkurrenzkampf

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