Leopard
Tageslicht zu kommen und Luft zu atmen.
Am Duft erkannte Harry, dass Kaja hinter ihm stand.
»Bingo«, hörte er Bjørn Holm leise im Hintergrund sagen.
Harry drehte sich um: »Die gleiche Art Seil?«
»Kein Zweifel«, sagte Bjørn, während er das Hammermikroskop auf das Seilende richtete und hochaufgelöste Fotos schoss. »Linde und Ulme. Aus Fasern der gleichen Länge und Dicke. Aber das ist noch nicht alles, wir haben es hier mit einer absolut frischen Schnittkante zu tun.«
»Was?«
Bjørn Holm deutete auf den Bildschirm. »Das Bild links habe ich im Labor gespeichert. Das zeigt die Schnittfläche des Seils im Frognerbad, 25-fach vergrößert. Und bei diesem Seil hier habe ich den perfekten …«
Harry schloss die Augen, um das Wort, das kommen musste, richtig zu genießen.
»… Match.«
Er ließ die Augen geschlossen. Das Seil, mit dem Marit Olsen erhängt worden war, stammte nicht nur aus dieser Seilerei, es war von der Seilrolle abgeschnitten worden, die vor ihnen auf dem Tisch lag. Und die Schnittfläche war frisch. Der Täter hatte dort gestanden, wo sie jetzt standen, vor gar nicht langer Zeit. Harry sog die Luft ein.
Die Dunkelheit verschluckte alles, so dass Harry beim Ablegen nur noch vage etwas Weißes in der Fensteröffnung erkennen konnte.
Kaja saß mit Harry vorne im Kahn. Sie musste sich dicht zu ihm beugen, damit er sie durch den Motorenlärm hören konnte:
»Wer immer das Seil da drüben geholt hat, muss sich in der Gegend auskennen. Und so viele Zwischenglieder zwischen ihm und dem Täter wird es kaum geben …«
»Ich glaube, es gibt überhaupt kein Zwischenglied«, sagte Harry. »Der Schnitt war frisch. Und Seile gehen eigentlich selten durch viele Hände.«
»Einer, der sich hier auskennt, der in der Nähe wohnt oder hier eine Hütte hat«, sagte Kaja laut. »Oder der hier aufgewachsen ist.«
»Aber warum fährt der hierher in eine stillgelegte Seilerei und holt sich ein paar Meter Seil?«, fragte Harry. »Wie viel kostet ein langes Seil? Ein paar Hundert Kronen?«
»Vielleicht war er zufällig in der Nähe und wusste, dass es da noch Seil gibt.«
»Okay, aber in der Nähe würde dann bedeuten, dass er in einer der Hütten ringsherum war. Für alle anderen ist es eine anständige Bootstour da rüber. Erstellst du …«
»Ja, ich mache eine Liste mit den nächsten Nachbarn. Ich habe übrigens einen Vulkanexperten aufgetrieben, du hattest mich doch darum gebeten. So einen Fanatiker im Geologischen Institut. Felix Røst. Der scheint Vulkan-Spotting zu machen, reist in der Welt herum und guckt sich Vulkane und Ausbrüche an und so ein Zeug.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nur mit seiner Schwester, die wohnt bei ihm. Sie hat mir geraten, zu mailen oder eine SMS zu schreiben, er kommuniziere bloß auf diese Weise, sagte sie. Außerdem sei er gerade Schach spielen. Ich habe ihm die Steine und die Daten geschickt.«
Sie fuhren langsam durch den engen Kanal bis zum Anleger. Bjørn hielt die Taschenlampe, die in dem leichten, über der Wasseroberfläche wabernden Nebel als Laterne und Wegweiser diente. Skai schaltete den Motor aus.
»Sieh mal!«, flüsterte Kaja und beugte sich noch dichter zu Harry. Er roch ihren Duft, als er ihrem Zeigefinger mit dem Blick folgte. Aus dem Schilf hinter dem Anleger glitt ein einzelner großer, kreideweißer Schwan aus dem Nebelschleier in den Lichtkegel der Taschenlampe.
»Ist das nicht … wunderschön«, flüsterte sie hingerissen, lachte und drückte rasch seine Hand.
Skai begleitete sie bis nach oben zur Kläranlage. Sie hatten sich bereits in den Amazon gesetzt und wollten gerade abfahren, als Bjørn fieberhaft die Scheibe nach unten kurbelte und dem Polizisten nachrief: » FRIDTJOF !«
Skai blieb stehen und drehte sich langsam um. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf sein schweres, ausdrucksloses Gesicht.
»Diese Witzfigur aus dem Fernsehen«, rief Bjørn. »Fridtjof aus Ytre Enebakk.«
»Ytre Enebakk«, sagte Skai und spuckte aus. »Nie gehört.«
Als der Amazon fünfundzwanzig Minuten später bei der Müllverbrennungsanlage in Grønmo auf die Europastraße bog, hatte Harry eine Entscheidung getroffen.
»Wir müssen diese Informationen an das Kriminalamt durchsickern lassen«, sagte er.
»Was?«, riefen Bjørn und Kaja im Chor.
»Ich rede mit Beate. Die soll das weitergeben. Dann sieht es so aus, als wären die Leute von der Kriminaltechnik von allein darauf gekommen, und nicht wir.«
»Und warum?«, wollte Kaja
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