Leopard
Lebensweise. »Aber dort ist sie ja nicht verschwunden.«
»Das wissen wir«, sagte Kaja. »Ist sie mit jemandem zusammen dorthin gefahren, und falls ja, wissen Sie, mit wem?«
»Keine Ahnung. Über diese Dinge haben wir nie gesprochen. Es reicht, dass wir das Bad teilten, falls Sie wissen, was ich meine. Sie hatte ihr Privatleben, ich meins. Aber ich bezweifle, dass sie allein in die Wildnis gegangen ist, um es mal so auszudrücken.«
»Ah ja?«
»Adele hat so gut wie nichts allein unternommen. Ich kann sie mir absolut nicht ohne irgendeinen Typen in einer Berghütte vorstellen. Aber wer das sein könnte, kann ich unmöglich sagen. Sie war – wenn ich es ganz unverblümt sagen darf – recht promiskuitiv. Freundinnen hatte sie keine, dafür umso mehr männliche Bekannte. Die sie voreinander geheim hielt. Adele hat kein Doppelleben geführt, sondern ein Quadrupelleben, oder so was in der Art.«
»Heißt das, sie war unehrlich?«
»Nicht unbedingt. Sie hat mir mal einen Tipp gegeben, wie man auf ehrliche Weise Schluss macht. Während ein Typ sie von hinten nahm, machte sie mit ihrem Handy ein Foto über die Schulter, klickte den Namen des Mannes an, mit dem sie Schluss machen wollte, schickte das Bild und löschte die Nummer. Alles in einem Aufwasch.« Geir Bruun sah sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Beeindruckend«, sagte Harry. »Wir wissen, dass sie in der Hütte für zwei Personen bezahlt hat. Können Sie uns einen Namen aus dem Kreis ihrer männlichen Freunde geben, damit wir irgendwo anfangen können?«
»Nein«, sagte Geir Bruun. »Aber als ich sie als vermisst gemeldet habe, habt ihr doch gecheckt, mit wem sie in den Wochen davor telefoniert hatte.«
»Wer hat das geprüft?«
»Ich kann mich an keinen Namen erinnern. Polizisten von hier.«
»Okay. Wir haben jetzt eine Verabredung mit dem Polizeipräsidium«, sagte Harry mit einem Blick auf seine Armbanduhr und stand auf.
»Wieso«, sagte Kaja, die sitzen geblieben war, »hat die Polizei die Ermittlungen eingestellt? Ich kann mich nicht einmal erinnern, etwas darüber in der Zeitung gelesen zu haben.«
»Wissen Sie das denn nicht?« Bruun gab zwei Frauen mit Kinderwagen vor dem Tresen ein Zeichen, dass er sie gleich bedienen würde. »Sie hat doch diese Karte geschickt.«
»Eine Karte?«, fragte Harry.
»Ja. Aus Ruanda. In Afrika.«
»Was hat sie geschrieben?«
»Jedenfalls nicht viel. Dass sie ihren Traumtypen getroffen hätte und ich die Miete alleine bezahlen müsse, bis sie im März zurückkäme. Bitch. «
Man konnte gemütlich zu Fuß bis zum Polizeipräsidium gehen. Ein Kommissar mit mondgesichtigem, rundem Kürbiskopf und einem Namen, den Harry sofort wieder vergessen hatte, empfing sie in einem verräucherten Büro, servierte ihnen Kaffee in Plastikbechern, an denen man sich die Fingerkuppen verbrühte, und musterte Kaja mit langen Blicken, sobald er sich unbeobachtet fühlte.
Er hielt ihnen einen Vortrag darüber, dass die Zahl der vermissten Norweger konstant zwischen fünfhundert und tausend pro Jahr lag, aber fast alle früher oder später wieder auftauchten, und wenn die Polizei jede Vermisstenanzeige verfolgen würde, in der kein Verdacht auf ein Verbrechen oder einen Unfall vorlag, hätten sie keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Harry unterdrückte ein Gähnen.
In Adele Vetlesens Fall gab es außerdem ein Lebenszeichen, das eigentlich noch irgendwo rumliegen müsse. Der Kommissar stand auf und steckte den Kürbiskopf in eine Aktenschublade, tauchte wieder auf und legte eine Postkarte vor sie auf den Tisch. Das Foto zeigte einen kegelförmigen Berg, dessen Spitze in einer Wolke verschwand. Es stand nirgendwo, wie der Berg hieß oder in welchem Teil der Welt er lag. Die Handschrift war krakelig und kantig. Harry konnte die Unterschrift nur mit Mühe entziffern. Adele. Es klebte eine ruandische Briefmarke auf der Karte mit einem Poststempel aus Kigali, der Hauptstadt, wenn Harry sich richtig erinnerte.
»Ihre Mutter hat bestätigt, dass das die Handschrift ihrer Tochter ist«, sagte der Kommissar und fügte hinzu, dass sie auf die inständige Bitte der Mutter überprüft und herausgefunden hatten, dass Adele Vetlesen tatsächlich auf der Passagierliste des Brussels-Airlines-Fluges am 25. November nach Kigali mit Zwischenstopp auf dem Entebbe-Flughafen in Uganda aufgeführt war. Interpol hatte darüber hinaus noch eine Hotelsuche durchgeführt und in einem Hotel in Kigali – der Kommissar blätterte in den Unterlagen
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