Leopard
konnte, eine Stickstoffvergiftung, die Benommenheit mit sich bringen konnte, so dass man plötzlich nicht einmal mehr in der Lage war, die einfachsten Aufgaben auszuführen. In noch größerer Tiefe konnte dieser Rausch zu Schwindel, Tunnelblick oder unvernünftigen Handlungsweisen führen. Jarle war nicht sicher, ob es nur Geschichten waren, aber er hatte von Tauchern gehört, die sich in fünfzig Metern Tiefe einfach die Maske abgenommen hatten. Bis jetzt hatte er diesen Rausch nur wie die angenehme Gelassenheit nach einem Glas Rotwein empfunden, das er samstagabends gern mit seiner Freundin zusammen genoss.
»Alles in Ordnung«, sagte Jarle Andreassen und begann wieder zu atmen. Er saugte das Gemisch aus Stickstoff und Sauerstoff ein und hörte das Blubbern der Blasentrauben, die an seinen Ohren vorbei Richtung Wasseroberfläche stiegen.
Es war ein großer Rothirsch. Er hing kopfüber im Wasser. Fast sah es aus, als hätte er sich bei einem Kopfsprung mit seinem gewaltigen Geweih verfangen. Wahrscheinlich war er beim Äsen am Ufer abgerutscht. Oder etwas oder jemand hatte ihn ins Wasser gejagt. Was sonst hatte er hier zu suchen? Vermutlich hatte er sich im Schilf und den meterlangen Stängeln der Seerosen verfangen und sich bei seinen Befreiungsversuchen nur noch mehr in den grünen, zähen Fangarmen verstrickt. Wahrscheinlich hatte er gekämpft, bis er ertrunken und auf den Grund gesunken war. Dort hatte er dann gelegen, bis die Bakterien und die chemischen Abläufe seinen Körper mit Gas gefüllt hatten und ihm Auftrieb gaben, der allerdings durch das in den Schlingpflanzen verfangene Geweih gebremst wurde. In wenigen Tagen würde das Gas entwichen sein und der Körper wieder auf den Grund sinken. Auch bei Menschen war das so. Vielleicht war auch die Frau, nach der sie suchten, bisher nicht entdeckt worden, weil ihr Körper daran gehindert wurde, aufzusteigen. Sollte sie irgendwo hier unten liegen, war ihr Körper wahrscheinlich von einer Schlammschicht bedeckt. Schlamm, der unweigerlich aufgewirbelt wurde und die Sicht verunmöglichte, sobald jemand in die Nähe kam. Deshalb blieben auch in so engbegrenzten Suchbereichen wie diesem manche Geheimnisse für immer verborgen.
Jarle Andreassen zog sein kräftiges Tauchermesser, schwamm zu dem Hirsch und schnitt die Stängel, in denen das Geweih hing, durch. Sein Vorgesetzter fand das sicher nicht gut, aber der Gedanke, das prachtvolle Tier gefangen im Wasser zurückzulassen, war ihm unerträglich. Der Kadaver hob sich einen halben Meter, wurde dann aber erneut von anderen Pflanzenteilen festgehalten. Jarle achtete darauf, dass sich seine Leine nicht zwischen den Stängeln verfing, und beeilte sich mit dem Schneiden, als er einen Ruck an der Leine spürte. Er erschrak und verlor einen Augenblick lang die Konzentration, so dass ihm das Messer aus der Hand glitt. Er richtete die Lampe auf den Grund und sah das Blatt kurz aufblitzen, ehe es im Schlamm versank. Vorsichtig schwamm er hinterher und steckte die Hand in den Schlamm, der wie Asche zu ihm aufstieg. Tastete den Boden ab. Fühlte Steine und glitschige, von Algen und Fäulnis überzogene Zweige. Dann ertastete er etwas Hartes. Eine Kette. Bestimmt von einem Boot. Mehr Kette. Etwas anderes. Hart. Seltsame Konturen. Ein Loch, eine Öffnung. Er hörte das Zischen der Blasen, ehe sein Gehirn den Gedanken formulieren konnte. Er hatte Angst.
»Alles in Ordnung, Jarle? Jarle?«
Nichts war in Ordnung. Denn selbst mit seinen dicken Handschuhen, selbst mit seinem Gehirn, das nicht genug Luft zu bekommen schien, zweifelte er keine Sekunde daran, worin seine Hand steckte. Das war der aufgerissene Mund eines Menschen.
TEIL I V
KAPITEL 36
Helikopter
M ikael Bellman kam mit einem Helikopter am Lyseren an. Die Rotorblätter machten Zuckerwatte aus dem Nebel, während er ausstieg und gebeugt über die Fläche hinter der Seilerbahn joggte. Kolkka und Beavis folgten ihm. Ihnen kamen vier Männer entgegen, die eine Bahre trugen. Bellman hielt sie an und schlug die Decke zur Seite. Während sich die Träger abwandten, beugte Bellman sich über die Bahre und musterte die nackte, weiße, aufgedunsene Leiche aufs genaueste.
»Danke«, sagte er und ließ sie weiter in Richtung Helikopter gehen.
Bellman blieb oben auf der Anhöhe stehen und blickte zu den Männern hinunter, die zwischen dem Gebäude und dem See standen. Inmitten der Taucher, die ihre Ausrüstung ablegten und sich ihre Anzüge abstreiften, sah er Beate
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