Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
selbst davor, sich einem Kuß hinzugeben, geschweige denn dem, was danach kommen würde. Es war das gleiche, aber auch ganz genau das gleiche, der weiche, entspannte Mund, bei dem kaum die Lippen geöffnet waren, und sie ihre Zunge erst anbot, als er sie mit der seinen berührte. Morlenden erinnerte sich an die Vergangenheit, ihrer beider Vergangenheit, nur zu gut. Aber was die Gegenwart betraf, so empfand er nichts außer ein paar leichten, flüchtigen Gefühlen, die keine Gestalt und keinen Namen hatten, abgesehen davon, daß sie mit einer Traurigkeit, einem gewissen Bedauern verwandt waren. Sie atmete einmal tief durch ihre schmalen Nasenlöcher, hielt dann inne, wandte sich abrupt um und blies die Kerze aus. Morlenden spürte etwas Feuchtes auf den Wangen; er brauchte nicht das Salz zu schmecken, um zu wissen, daß es Tränen waren, wenngleich er ein Schluchzen von ihr weder gefühlt noch gehört hatte. Es war jetzt vollkommen dunkel in dem Raum, und er konnte sie nur am Geräusch ihrer Bewegungen verfolgen, am Rascheln ihres Unterhemdes, am Schlurfen ihrer bloßen Füße über den unebenen Holzboden, am Griff ihrer Hände, und er hörte das Bett knarren, als es ihr Gewicht empfing. Dann paßte sich das Schweigen der Dunkelheit an, Morlenden begab sich unter seine eigenen Decken und fiel beinahe sofort in den Schlaf, während ein letzter Gedanke wie ein gewaltiges Schott hinter dem Damm auftauchte: Ja, das Bett knarrte, aber nur gerade soviel wie damals. Auch bei uns knarrte es, bei Sanjir und mir, als wir das Körpergewicht des anderen empfingen; das Knarren dauert noch immer an.
Des Morgens, im grauen Licht eines regnerischen Morgens, erwachte Morlenden und sah, daß Sanjirmil immer noch schlief und langsam und tief atmete. Er glitt vorsichtig aus dem Bett und suchte leise seine Sachen und seine Kleider zusammen, um sie nicht aufzuwecken. Er wollte nichts mehr von der bedrückenden Unterhaltung wissen, die sie am Abend vorher geführt hatten.
Nachdem er sich noch ein letztes Mal umgesehen hatte, um sich zu vergewissern, daß er nichts vergessen hatte, hielt er inne, da er Sanjirmil noch ein letztes Mal ansehen wollte, Sanjir, die er vor langer Zeit im Walde getroffen hatte, Ajimi, deren Geliebter er gewesen war, und die neue und irritierende Sanjirmil … Terklaren, ja, die erwachsene auch, die von Fallen und Drohungen und noch mehr Rätseln sprach. Sanjirmil lag auf der Seite, nur halb zugedeckt, halb zusammengerollt; die Lippen leicht geöffnet, immer noch tief im Schlaf. Er sah genauer hin und erinnerte sich. Schlafend verlor ihr Gesicht im Jetzt viel von seiner ungewohnten Strenge und wirkte wieder weich und kindlich, ein Gör, ja, aber auch ein Gör, das sehr einsam war, sehr viel Angst vor der ihm aufgezwungenen Einzigartigkeit hatte. Die Adlernase verlor viel von ihrem raubtierhaften Schwung. Wenn es entspannt war, war es ein Gesicht, in dem sich Wünsche und Leidenschaften abzeichneten, und es kam dann nahe daran heran, ganz lieblich zu sein; ein ganz klein wenig schräg in den Augenwinkeln, war dieses Gesicht gleichzeitig fein und markant, ruhig und glatt wie das Gesicht irgendeines wilden Tieres im Zustand der Ruhe. Er merkte, daß es jetzt kein Geheimnis mehr war, wie sie zusammengekommen waren, als sie sich kennengelernt hatten; Sanjir war in der Tat eine Klasse für sich. Auffallend, gebieterisch; sie wäre selbst inmitten einer Menge sehr schöner Mädchen noch außergewöhnlich gewesen.
Er ging noch näher heran, vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, und er betrachtete ganz aus der Nähe ihre Augen, die immer noch geschlossen waren. Er glaubte, unter den Lidern irgendeine Bewegung zu entdecken, so als ob sie gerade einen Traum hätte. Er fragte sich vergeblich, was für ein Traum das wohl sein mochte. Näher. Hinter den geschlossenen Augenlidern war eine Bewegung, aber wie er sie beobachtete, konnte Morlenden sehen, daß die Bewegung unter den weichen, schwarzen, glänzenden Wimpern nicht die unstete, hin und her wandernde Bewegung einer gewöhnlichen Person während des Traums war, sondern eine Variante des gleichen tastenden Suchens, das er schon an ihr bemerkt hatte. Die Augen tasteten die „Umgebung“ nach Art eines Rasters ab: eine Querlinie, dann ein wenig tiefer der Neuansatz, bis zum untersten Teil des Gesichtsfeldes, dann wurde das Ganze wiederholt. Jetzt trat eine Verlangsamung ein, und er konnte die einzelnen Teile der Bewegung sehen, wozu er vorher nicht in der Lage gewesen war.
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