Lerchenherzen
an ihre Beine schmiegt und schnurrt. Und die hat schon früher Mathildes Tränen gesehen.
Unter der Woche ist sie in der Gemeinde unterwegs. Sitzt in ihrer etwas mürrischen Art und tunkt die Zuckerstückchen in den schwarzen Kaffe, während sie den mehr oder weniger willigen Gastgebern Neuigkeiten zu entlocken versucht.
Wie gewöhnlich gibt es von den Leuten auf Rønningen viel zu erzählen.
»Hast du gehört, daß die Jungens dort beinahe die neue Scheune angezündet haben? Zündeten das trockene Gras an, weißt du. Asta und ihr Mann haben das gerade noch löschen können.«
»Nein, wirklich wahr? Hat man so was Verrücktes schon gehört?« (Aber Ragnhild, erzählt etwas von Ragnhild!)
»Ja, das waren die jüngsten Zwillinge, die Ostern mit der Schule anfangen sollen. Und die ältesten, die neunjährigen, haben alle Hühner in die Küche gescheucht, als die Eltern mit dem Boot draußen waren. Sie hatten angefangen, darum zu feilschen, ob wohl alle Hühner da hineinpassen, und das mußten sie nun untersuchen. Ja, das sind Rabauken! Fünfzig, sechzig Hühner, die vor Schrecken wie von Sinnen sind. Hühnerdreck überall in der Küche, wie man sich denken kann!«
»Hat man da noch Töne!« (Und Ragnhild …?) Sie kann sich nicht überwinden zu fragen. »Ja, ja,Asta hat schon ihr Tun: Danke für den Kaffee. Ja, ja.«
Und damit verschwindet Mathilde und macht sich auf den Weg, zugeknöpft und sehr aufrecht. Sie ist dreiunddreißig, aber sie kleidet sich und benimmt sich, als wäre sie doppelt so alt.
»Das war ja schrecklich, wie zahm die heute war«, sagt die Hausfrau und kommt sich fast ein bißchen betrogen vor, wie sie die Kaffeetassen wegräumt. Und die Kinder, die um den Küchentisch gesessen haben, Augen und Ohren weit aufgesperrt, finden das auch. Heute war Mathilde irgendwie komisch. Kein einziges böses Wort über irgendeinen Menschen! Ob sie frühzeitig alt wird?
Ja, Mathilde fühlt sich alt, uralt in diesen Wochen. Denn das dauert wochenlang an. So lange ist Ragnhild noch nie von Ås weggeblieben, seit sie auf eigene Faust dorthin kommen kann.
Und dann wundern sich die Leute im Dorf, ob Mathilde nun ganz und gar wieder in die Kindheit zurückkehrt. Denn gleich, nachdem das Pflügen erledigt ist, gibt sie dem Knecht den Auftrag, ein Spielhaus unter der Eiche ganz hinten im Garten zu bauen.
Es wird ein hübsches kleines Haus, denn der Knecht ist geschickt und geht die Sache mit Lust und Liebe an, auch wenn ihm Sinn und Zweckdieses Gebäudes nicht ganz klar sind. Für das Fenster, das nach der Jakobsau hin liegt, schnitzt er eine hübsche Verzierung, und er tischlert zwei kleine Stühle und einen Tisch. Aufs Dach kommen richtige Ziegel, und die Haustür erhält Schloß und Schlüssel aus Schmiedeeisen. Mathilde legt Flickenteppiche auf den Fußboden, und an das Fensterchen hängt sie dünne weiße Gardinen.
Die ganze Gemeinde folgt dem Bau dieses kleinen Hauses mit Spannung, aber ganz besonders gespannt und neugierig ist Ragnhild, auf dem Weg zur Schule und zurück, mit ihrem Ranzen, der auf dem Rücken hüpft. An der Milchrampe, dort wo der Weg sich gabelt, scheint sie voller Freude abzubiegen, merkt aber, wie das jeden Tag doch schwerer wird, ohne daß sie weiß, warum.
Aber eines Tages steht Mathilde höchstpersönlich an der Milchrampe und wartet auf sie. Sie tut nicht einmal so, als habe sie dort etwas zu schaffen, sondern steht nur steif und aufrecht neben der schiefen alten Rampe, als Ragnhild zusammen mit den anderen Kindern vorbeikommt.
»Du kommst mit mir nach Hause«, sagt sie brüsk, wie es ihre Art ist, aber ihre Augen strahlen mehr, als es jemand im Dorf schon mal gesehen hat. Und die kluge kleine Ragnhild begreift, daß dies die einzige Liebeserklärung ist, die sie jemals von der mürrischen Tante bekommen wird. Stillschweigendschiebt sie ihre kleine Hand in Mathildes, und zusammen gehen sie langsam durch die grüne Birkenallee.
16
Nach dieser Episode wird Ragnhild für Mathilde fast so etwas wie eine Tochter. Immer öfter kommt sie mit ihrem kleinen Bündel und fängt an, tagelang zu bleiben. Bald wohnt sie mehr auf dem Hof der Tante als zu Hause. Und das ist nicht so merkwürdig, wenn man bedenkt, wieviel Unheil ihre wilden Brüder anrichten.
»Das wird böse mit ihnen enden«, sagen die Leute im Ort und schütteln nachdenklich die Köpfe. Aber es geht gut, seltsamerweise. Zwar brechen sie sich zwischendurch schon auch einmal Arme oder Beine, aber nach einigen Wochen in Gips
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