Lerchenherzen
ist das ja wieder in Ordnung.
Ragnhild fühlt sich jedenfalls in der Stille auf Ås wohler als unter ihren geräuschvollen Brüdern. Ihre vier Schwestern sind groß und gehen ihre eigenen Wege. Zwei und zwei halten sie immer zusammen, und so eine kleine singende Schwester dabeizuhaben, wäre eine ziemlich unnütze Bürde, finden sie. Außerdem gibt es dort ja das Spielhaus.Mathilde wußte schon, was sie tat, als sie es bauen ließ.
Ja, weißt du, das Haus ist schon toll. Denn damals sah es schon genauso aus wie heute, Stube und Küche und die klitzekleine Veranda mit der schönen Brüstung, die aus Holz geschnitzt ist. Aber der alte grüne und eingestaubte Diwan, den Mathilde hineinstellte, ist gegen ein hübscheres Sofa ausgetauscht worden. Und die Gardinen sind neu. Statt der weißen Gardinen aus Ragnhilds Kindheit hängen da jetzt karierte Baumwollgardinen.
Das Spielhaus lockt auch andere kleine Mädchen nach Ås. Bald klingen eifrige Kinderstimmen mit der Essensglocke um die Wette. Sobald sie einen Grund sieht, ermahnt Mathilde sie barsch, stiller zu sein, aber die Kleinen haben schnell begriffen, daß sie es nicht so meint. Hin und wieder kann es passieren, daß sie mitten auf dem Hofplatz, zwischen Kuhstall und Vorderhaus, stehenbleibt und den Kindern zuschaut, die so eifrig beschäftigt sind. Als ob sie denkt: So also sehen sie aus, wenn sie acht Jahre alt sind, zehn Jahre …
Wenn es niemand sieht, dann können ihre Augen schon mal glänzen. Und dann hat sie im Garten etwas zu tun und bringt eine Flasche Apfelsaft – Mathildes selbstgemachter Apfelsaft ist der beste auf der Welt! – oder sie kommt mit ein paar ordentlichen Scheiben Brot und einem kleinen Glas Pflaumenmarmelade.
Einmal hatte sie zwei hartgekochte Eier dabei. Da flog ihr die kleine Synnøve – ein süßes kleines Ding – aus lauter Dankbarkeit um den Hals. Das machte sie nur einmal, denn Mathilde schüttelte die Kleine ziemlich unwirsch ab und verschwand zwischen den Apfelbäumen, »Nun benehmt euch mal!« murmelnd.
Du arme, sonderliche, mürrische und schrullige Mathilde! Nun hastest du durch den Apfelgarten, den Rücken so steif und aufrecht, als hättest du einen Stock verschluckt, wie die Leute im Ort oft von dir sagen.
Aber – gib acht! – jetzt bist du an einen Ast mit duftenden, halbreifen Øpfeln geraten, so daß dir die schweren rotbackigen Früchte um die Ohren schlagen. Du brauchst doch nicht auf diese Weise halbblind fortzurennen! Und du kannst dir in Ruhe mit dem Zipfel deiner geblümten Schürze über die Augen fahren, denn hier, in deinem eigenen Apfelgarten, ist ja niemand, der dich sieht.
Auch im Waschhaus ist niemand, der dich sieht, denn das Mädchen, das dir hilft, ist noch im Stall. Sie ist mit dem Melken fertig und hat die Milch bereitgestellt, damit du sie in Milch und Sahne trennst. Jetzt gießt du Milch in die blanke Schüssel der Milchschleuder und beginnst langsam und nachdenklich die Kurbel zu drehen. Aber gib auf den Ton acht, Mathilde! Es wird nichts mit der Sahne, wenn es zu schnell geht – oder zu langsam.
Die Zentrifugenweise, die kennst du. Sie begleitet dich, seit du als kleines Mädchen auf einem Schemel standest und die Kurbel für deine mürrische Großmutter drehtest. Das gehört zu den ganz wenigen Erinnerungen, die du an sie hast. Mürrische alte Großmutter Kristine, die dir so wenig zu geben hatte, daß du sie nicht die Spur vermißt hast, als sie in dem Winter, als du vier wurdest, starb.
Aber sie lehrte dich, auf den Ton in der Milchschleuder zu hören. Durch die Jahre hin hast du gelernt, daß – wenn die Zentrifuge den richtigen Ton gefunden hat, wenn du die Kurbel mit der großen Übertragung in genau dem richtigen Tempo drehst, so daß die Sahne, haargenau so dick, wie sie soll, durch die eine Úffnung fließt, und die Milch, achte auf den Schaum, durch die andere – du deine Gedanken bei dieser Arbeit schweifen lassen kannst, getragen vom gleichförmigen Ton der Zentrifugenweise.
Paß auf das Lied auf, Mathilde, mir scheint, daß du heute ungleichmäßig kurbelst. Und beug dich nicht über die Schüssel, salzige Tränen haben weder in der Sahne noch in der Milch etwas zu suchen. Warum bist du heute wohl so besonders niedergeschlagen und deprimiert? Ist es das helle Lachen der Mädchen, das du hörst und das sich mit dem Geräusch des Separators mischt? Oder das Gefühl von zwei Mädchenarmen um deinenHals und von einer daunenweichen Kinderwange, die sich einen schwindelnden
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