Lerchenherzen
auf Ås, den Koffer als heimlichen Traum oben in dem großen Wandschrank in ihrer Kammer. Vier Jahre die Rinder versorgen, die Kälber,vier Jahre Brotbacken und Nähen und nach ländlichen Festen nächtliche Radtouren mit bald dem einen, bald dem anderen der grünen Burschen aus der Gemeinde.
Aber eines Tages wird der Koffer gepackt, und sie zieht fort, bis zum Bahnhof in Tønsberg gefolgt von den kurzatmigen Ermahnungen ihrer Mutter und den verdrossenen Protesten Mathildes. Der Zug prustet und schnaubt mit ihr von dannen durch die herbstliche Landschaft des Vestfold und liefert sie mit Koffer, Regenschirm und Handtasche auf dem Bahnhof in Oslo ab. Sie ist neunzehn Jahre alt und nie weiter als bis Holmestrand gekommen.
Ich glaube, diese Geschichte habe ich viele hundert Male gehört. Ich kann den Duft von Kaffee riechen, von Apfelsaft und frischgebackenen Waffeln, die blau gestrichene Küche vor mir sehen. Ich kann die große Wanduhr in der Stube hören, das Ticken der Sekunden hängt im Raum, jedesmal, wenn Ragnhild eine Pause macht, um sich die Lachtränen abzutrocknen. Und dieses Lachen, Ragnhilds Lachen, von dem Mutter immer sagte, es klinge, als würden Erbsen aus einem Sack kullern, das sitzt noch in den Wänden von Ås. Denn das Weinen, das kam später.
Aber jetzt herrscht noch Lachlust vor, wenn Ragnhild beschreibt, wie sie, als wäre sie geradevom Himmel gefallen, in Norwegens Hauptstadt steht, rings um sich das wimmelnde Leben, schon damals, Mitte der dreißiger Jahre. Ein klitzekleiner Mensch mit einem riesengroßen Koffer und null Erfahrung mit Städten größer als Tønsberg und Holmestrand. Sie beschließt, daß sie zuerst einmal das Schloß sehen will.
Sie trägt ein flottes Kostüm, Mathilde hatte ihr nur widerwillig und schmollend beim Nähen geholfen. Es hat einen engen Rock und eine taillierte Jacke und läßt sie noch kleiner erscheinen, als sie ohnehin ist. Aber der große Koffer macht ihr nichts aus, sie ist es gewohnt, Milchkannen von vierzig Litern zu bewältigen.
Schwieriger sind die hochhackigen Schuhe. Für eine, die nur auf dem Fußboden in der Küche geübt hat, stellen die Pflastersteine unerwartete Herausforderungen dar. Aber trotz des Herumwackelns kommt sie hinauf zum Schloß und bleibt mitten auf dem Platz davor stehen, überrascht, daß es wirklich nicht größer ist und weder Turm noch Spitze hat. Aber groß genug für eine Familie ist es durchaus, und praktisch, wie sie ist, denkt sie: »Da gibt es viel sauberzumachen, aber die haben wohl Leute zur Hilfe.«
Dann sieht sie die zwei Schilderhäuschen auf beiden Seiten des Eingangs und geht hinüber, um die hoch aufgerichtet stehenden Gardisten mit dem Federbusch von nahem in Augenschein zunehmen. Sie baut sich vor dem einen auf, stellt den Koffer ab, hebt den Blick und begegnet zwei braunen Augen in einem etwas eckigen, aber recht gutaussehenden Gesicht, und sie ist dermaßen verdutzt, daß sie knickst, eine erwachsene Frau.
Gibt es das, Liebe auf den ersten Blick? Ich glaube es, denn genau das geschieht in diesem Moment zwischen der winzigen Ragnhild aus Stokke und dem großen, kräftigen Lars Larsen von einem Hof in der Nähe von Holmestrand. Sie schauen sich an und lächeln.
Später sind sie dieses erste Treffen in jedem kleinsten Detail durchgegangen, in tausend Nächten voller Gelächter. »Ist dir eigentlich klar, daß du geknickst hast, kannst du dir das vorstellen?« – »Und du, du hast dich einfach umgedreht und bist abmarschiert!« Denn genau das ist es, was er tut. Macht plötzlich eine halbe Drehung und marschiert los, stoppt und marschiert zurück, sieht sie an, ängstlich, sie könnte verschwinden, wendet und marschiert wieder los.
Ragnhild begreift ja allmählich, daß in diesem Tun ein Sinn liegt, besonders weil der Gardist aus dem anderen Häuschen genau das gleiche Manöver vollführt, genau zur gleichen Zeit. Sie setzt sich auf den Sockel von König Karl Johann mit dem Koffer neben sich und wartet auf die Wachablösung. Die beiden Gardisten werden unter viel umständlichem, militärischem Getue abgeholtund marschieren im Gleichschritt zu dem niedrigen Holzgebäude im Park, rechts vom Schloß. Sie geht nicht hinterher, sondern sitzt ruhig und betrachtet das Treiben ringsumher, während ein Teil von ihr denkt, das hier ist der glatte Wahnsinn, so etwas passiert nur in Büchern, nicht im richtigen Leben. Aber ein anderer Teil von ihr weiß, wenn sie jetzt geht, wird sie sich ihr Leben lang darüber
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