Lerchenherzen
weit für ihr Alter. Aber Mathildes mürrisches Benehmen prallt gleichsam von ihr ab. Sie ist, wie sie ist, ruhig und stets vor sich hin summend.
Von zu Hause ist sie außerdem beträchtlich heftigere Umgangsformen gewöhnt. Für gewöhnlich herrscht dort ein solches Gezeter, daß sie ihr eigenes Singen nicht hören kann. Die Mutter schimpft, und die Brüder schreien und heulen. Die ältesten Schwestern stopfen sich die Finger in die Ohren und lesen, und Taff, der Hund, kläfft und tut was er kann, um das Ganze zu übertönen.
Die Mutter greift ein, wenn die Rauferei zwischen zweien der Buben gar zu wild wird. Geschickt und gebieterisch schnappt sie sich die beiden im Nacken und reibt ihnen die Nasen aneinander, »damit sie merken können, daß sie zurgleichen Familie gehören!«. Für den Augenblick hilft es auch. Dazwischen bewegt sich der Vater, zurückhaltend und ruhig wie Ragnhild, und meint unbeholfen: »Nein, nun seid ihr aber zu weit gegangen, Kinder.« Die wenigen Male, wo er tatsächlich eingreift, wird es still.
Nein, daß Ragnhild sich nach Ås hingezogen fühlt und zu »Tante Mathilde« und sich dort aufhält, sooft sie kann, ist kein Wunder. Und allmählich vermißt Mathilde sie, wenn sie wieder weg ist, so sehr, daß sie anders als sonst und nicht mehr sie selbst zu sein scheint. Es ist, als brüte sie vor sich hin, als wünschte sie das kleine Mädchen ungeduldig zurück, obwohl sie sich so wenig um Ragnhild kümmert, wenn sie auf dem Hof ist.
Und Ragnhild ist ein friedliebendes und vernünftiges Kind, das nur selten den Zorn der Erwachsenen auf sich zieht, weder zu Hause noch auf Ås. Nur ein einziges Mal knallt es, da bekommt sie von Mathilde eine schallende Ohrfeige.
Das passierte eines Tages Anfang Mai. Sie hatten den Kuckuck gehört, und Ragnhild erhielt die Erlaubnis, barfuß zu gehen. Glücklich streift sie umher und sammelt die Tannenzapfen und kleine Øste vom letzten Jahr für ihren Bauernhof, den sie mitten auf dem Hofplatz aufbaut. Kühe und Kälber, Schweine und Schafe nehmen unter ihren geschickten Händen Gestalt an. Aber sie hat kein Pferd. Keiner der Zapfen ist groß genug, um einPferd sein zu können. Da fällt ihr das schön geschnitzte Pferd auf der Anrichte in der guten Stube ein, barfuß stapft sie dorthin, holt sich das Pferdchen und trägt es ehrerbietig hinaus zu den anderen Tieren. Sie setzt es auf einen flachen Stein, damit ihm nichts geschieht, und bewegt die Kälber und die Schafe hin und her, leise vor sich hin summend.
Da kommt Mathilde vom Hühnerstall. Als sie das Pferd sieht, setzt sie den Eierkorb so hart ab, daß einige Eier zerbrechen, und dann gibt sie Ragnhild eine Ohrfeige, daß es knallt. Sie zischt: »Das Pferd wird nicht angefaßt«, nimmt es, schnappt sich den Eierkorb und marschiert wütend ins Haus. Das Mädchen sitzt da, wie gelähmt.
Nach einer Weile erhebt Ragnhild sich, bleibt stehen und schaut sich verwirrt und unsicher um, ehe sie traurig vom Hof schleicht. Auf bloßen Füßen geht sie den ganzen langen Weg nach Hause. Unterdessen denkt sie, daß sie nun niemals mehr nach Ås kommen kann. Dieser Gedanke trägt zusammen mit den wunden Füßen dazu bei, daß ihr die Tränen in einem fort über die Wangen laufen, so daß sie mit streifigem Gesicht und Blasen an den Füßen in das Spektakel zu Hause zurückkehrt. Viele, viele Tage lang singt sie nicht.
Mathilde hat das Pferd auf seinen Platz auf derAnrichte gestellt. Die Hände zittern ihr. Sie steht in der guten Stube am Fenster und schaut dem kleinen traurigen Kinderrücken nach, während ihr die Handfläche vor Scham brennt. Denn diesen Schlag hätte der bekommen sollen, der das Pferd gemacht hat, und nicht das Kind, das glaubte, das Pferd sei zum Spielen.
15
Mehrere Tage lang geht sie wie auf Nadeln. Sie räumt in der Kammer auf, wo Ragnhild gewöhnlich schläft. In der letzten Zeit ist sie fast jedes Wochenende hier auf dem Hof gewesen. Jetzt liegen das Nachthemd, eine kleine rote Strickjacke und ein paar andere der kleinen Kleidungsstücke hier drinnen, und sie sehen so seltsam verloren aus in dem leeren Raum.
Mathilde macht sich des Abends in der Kammer zu schaffen, und in dem stillen, dunklen Haus nimmt sie das Nachthemd, atmet den Duft des Kindes tief ein, schluchzt, mein Kind, mein Kind! Die Tränen, die sie vergießt, zeigen eine derartige Verzweiflung, daß niemand, der sie sah, glauben würde, Ragnhild sei der Grund.
Aber es gibt niemanden, der sie sieht, nur dieKatze, die sich
Weitere Kostenlose Bücher