Lerchenherzen
daß bei der Mieterin alles anständig zuging.
»Wie gut, daß das Fräulein vom Lande ist. Die Mädchen vom Lande sind so sehr viel bescheidener und einfacher als die Mädchen aus der Stadt. Und ist sie vielleicht sogar verlobt? Nein, das ist auch gut so, denn von Herrenbesuch kann selbstverständlich nicht die Rede sein.« Die Gefahr, in ihrer eigenen Wohnung auf einen waschechtenMann zu stoßen, ließ auf ihren Wangen erschreckte, rote Flecken erscheinen. Denn stell dir vor, sie kommt in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu bereiten, »nur im Neglisché« …
Bei dieser Vorstellung drückten die Augen der »Wolldecke« ein derart kugelrundes Erschrecken aus, daß Ragnhild lange glaubte, der Ausdruck »nur im Neglisché« bedeute, die Wirtin pflege in der Wohnung herumzugeistern ohne einen Faden am Leibe. »In der eiskalten Wohnung!« Erst einige Wochen später sollte sie entdecken, daß das »Neglisché« der »Wolldecke« ihr langer und glänzender seidener Morgenrock von unbestimmter Farbe und Herkunft war.
Der Anblick dieser altertümlichen Erscheinung, in Morgenrock und den Kopf voll unzähliger klitzekleiner abstehender Papilloten, die einzusetzen bestimmt den ganzen Vormittag gedauert haben mußte, reichte, um den meisten einen Schrecken einzujagen. Und Ragnhild enthielt wohlweislich ihrem neuen Bekannten sowohl die »Wolldecke« als auch das Negligé vor, ohne ganz sicher zu sein, wen sie eigentlich vor wem schützte.
Im übrigen war es nicht so schwierig, die beiden einander vorzuenthalten, weil die »Wolldecke« die meiste Zeit zwischen ihren mit Laken bedeckten Möbeln in ihren eigenen Räumen zubrachte, ohne daß Ragnhild eigentlich jemals Klarheit darüber erhielt, womit sie sich beschäftigte, abgesehendavon, Papilloten in den Haaren zu befestigen. Oder wofür in aller Welt diese Lakendrapierungen gut sein sollten.
Im großen und ganzen trafen sie sich nur wenige Male am Tag. Wenn Ragnhild nachmittags von der Arbeit kam, traf sie die »Wolldecke« oftmals im Korridor, bekleidet mit Sachen, die nicht nur aussahen, als stammten sie aus längst vergangenen Zeiten, sondern auch wirkten, als hätte man sie ihr in zufälliger Reihenfolge übergeworfen. Außer Atem und abgehetzt setzte sie sich die absonderlichsten Hüte auf; einer von ihnen trug einen schwarzen Schmetterling, der auf einer langen Spiralfeder wippte, ein anderer eine solide kleine Straußenfeder, die sich kokett vor das eine kugelrunde Auge der »Wolldecke« legte und sie dazu veranlaßte, wie eine kurzsichtige Eule immerfort zu blinzeln. Mit mörderischer Energie spießte sie sich lange Hutnadeln aus Perlmutter durch die Locken und stürzte zur Tür, um einkaufen zu gehen, stets zehn Minuten, ehe die Geschäfte schlossen, und stets die Bemerkung: »Ach du liebe Güte, ich habe so viel zu erledigen!« atemlos über die Schulter werfend.
Ansonsten ist sie nicht zu sehen, aber um so mehr zu hören. An jedem Samstagabend, genau um acht Uhr, nimmt sie ein Bad in der großen Badewanne mit den Löwenfüßen. Ragnhild und Lars können sie dann ihre unterdrückten Schreieausstoßen hören, wenn sie in das eiskalte Wasser steigt. Und Tag und Nacht sickern die merkwürdigsten Geräusche durch die Filzwände zu Ragnhild und ihrem eingeschmuggelten Freund. Es klingt, als ob die ganze Wohnung jede Nacht auf den Kopf gestellt würde, aber tags drauf steht alles, soweit Ragnhild bei den kurzen Einblicken, die sie bekommt, beurteilen kann, wieder an seinem gewohnten Platz, in seine weißen Laken gehüllt.
Es war und blieb ein Rätsel, was diese Person trieb. Vielleicht arbeitete sie wie verrückt, um warm zu werden, denn ihre Räume waren vermutlich genauso eiskalt wie der Rest der Wohnung. Und der ist so kalt, daß Ragnhild und Lars keinen anderen Ausweg sehen, als die Abende unter der Bettdecke zu verbringen, etwas, das sie vermutlich in jedem Fall getan hätten, aber so haben sie einen Vorwand. Glücklich kriechen sie in der vertrauten Wärme zusammen, während der Frosthauch wie eine Wolke aus ihrem Atem entsteht, und die wenigen Male, wenn Ragnhild einfällt, daß sie das nicht tun dürfte, denkt sie gleichzeitig, daß etwas, das sich so richtig anfühlt, nicht ganz verkehrt sein kann.
Denn sie sind sich sicher, daß sie den Rest ihres Leben zusammen verbringen werden. Es muß nur geplant werden, wie und wann. Sie benutzen die Nächte, ehe er sich hinausschleicht, um von der Zukunft zu träumen, während die »Wolldecke«wie verrückt auf der
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