Lerchenherzen
seinen Fäustlingen.
Denkst du an die ekstatischen Sommernächte in der Scheune? Du preßt das harte Holzpferd gegen die Brust und versuchst, die Stimme dessen in dir wachzurufen, der es geschnitzt hat, die Schwere seines Körpers, seinen Geruch, Geschmack, seine Berührung. Aber diese Dinge lassen sich nicht wieder hervorrufen, Mathilde! Wirst du dein ganzes Leben lang brauchen, um das zu begreifen?
22
Wir leben für die Lebenden, und in diesem Winter erlebt Mathilde intensiv, wie sehr sie Ragnhild vermißt. In schlaflosen Nächten treibt sie ruhelos durchs Haus und vermißt die leise singende Stimme und die unbekümmerte kleine Gestalt mehr, als sie glaubte, daß es möglich sei. Und wie damals vor vielen Jahren, als sie das Spielhaus bauen ließ, faßt sie auch jetzt einen Entschluß, der RagnhildsLeben fester an ihres knüpfen soll. Wer keine Zärtlichkeit zu geben hat, muß zu anderen Mitteln greifen.
An diesem schönen Frühlingstag serviert sie Hühnerfrikassee. Eines ihrer alten Hühner mußte nach langem und treuem Dienst mit dem Leben büßen und liegt nun, zerteilt und gargekocht, zusammen mit Erbsen, gelben Rüben und Porree aus Mathildes Küchengarten in einer prächtigen Suppenschüssel.
Ich werde dir diese Terrine bei Gelegenheit einmal zeigen. Ich glaube, sie ist ein altes Erbstück von Johanne Kristine, von Anders' Mutter. Sie hat ihren Platz in der guten Stube auf einer Konsole zusammen mit einer wunderhübschen Porzellanpuppe im vergilbten Seidenkleid mit Spitzensaum.
Vor Verblüffung hätte Ragnhilds Vater die alte Terrine genau da um ein Haar fallengelassen, als Mathilde in ihrer nachdrücklich-bündigen Art, mit der Kartoffelschüssel in der Hand, verkündet, daß sie daran denkt, Ragnhild den Hof zu überlassen.
Zum Glück hat seine Frau jahrelanges Training darin, Geschirr aus den Händen tolpatschiger Jungenhände zu retten. Blitzschnell greift sie ein und verhindert so, daß die Porzellanpuppe in künftigen Jahren allein auf der Konsole stehen muß, und sich statt dessen auch weiterhin den Platz mit der schönen Suppenschüssel mit dem Goldrand teilen kann.
Auch die übrigen Gäste sind auf diese Neuigkeit nicht vorbereitet. Keiner hat sich vorstellen können, Mathilde würde die Angelegenheiten des väterlichen Hofes demnächst anderen überlassen. Das hat sie nun auch nicht vor. Im Gegenteil macht sie klar, daß sie auch weiterhin die Zügel in der Hand behalten will, aber sie möchte, daß sich Ragnhild und Lars im Sommer nach der Hochzeit auf dem Hof niederlassen. Und ihr erster Sohn soll das Erbrecht für den Hof bekommen.
»Denn ich habe ja keinen, der nach mir kommt«, meint sie unwirsch und zieht sich so rasch in Richtung Küche zurück, daß sie in der Bewegung mit der Kartoffelschüssel das Pferdchen von der Anrichte fegt. Es zerbricht nicht, aber Ragnhild kann sehen, wie Mathildes Hände zittern, als sie es aufhebt und feststellt, daß der kleine Stab herausgefallen ist. Und als die beiden Frauen auf den Knien liegen und auf den grau gestrichenen Dielen nach dem winzig kleinen Holzsplitter suchen, nicht halb so groß wie eine Gewürznelke, da fühlt Ragnhild eine warme Träne auf ihre Hand tropfen. Die ist nicht von ihr. Für einen Moment, als der Tropfen auf ihrem Handrücken glitzert, scheint die Zeit stillzustehen, dann gleitet er auf die Holzbohlen und trifft auf den mikroskopisch kleinen Stab, den keiner von ihnen beiden hatte entdecken können.Ein großer Bauernhof mitsamt Essensglocke wartet also auf Ragnhild und Lars, als sie aus Oslo abreisen, um zu heiraten, in diesem Frühsommer Mitte der dreißiger Jahre. Er hat seinen Militärdienst beendet, und sie ist wieder auf den Beinen nach einer neuerlichen Fehlgeburt, nur vier Monate nach der ersten. Aber auch dieses Mal ist sie nicht unglücklich, daß es schiefging. Sie sind sich einig, sie und Lars, daß die Kinder noch früh genug kommen werden.
Jetzt soll auf Ås mit Verwandten und Freunden und nicht zuletzt mit den heimgekehrten lärmenden Zwillingsbrüdern eine altmodische große Hochzeit gefeiert werden. Sie haben Stoff für ein Brautkleid von unterwegs mitgebracht, und Mathilde wird es nähen.
Aber den Schleier kauft Ragnhild in Oslo. Auf ihrer Runde durch die Geschäfte hat sie Borgny bei sich, und gemeinsam wählen sie ein spinnwebzartes, mehrere Meter langes Stück Stoff aus, in den mit einem gröberen Faden ein Rosenmuster eingewebt und das an einem Perlenbogen befestigt ist, der in Ragnhilds
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