Lerchenherzen
weh. Diefröhliche, stets zum Lachen aufgelegte Lea, die oftmals in die Küche gewirbelt kam und mit Borgny durch die Küche tanzte, daß die Tassen klirrten und die Kaltmamsell drohte, sie beide augenblicklich hinauszuwerfen. Lea mit der großen Familie. Lea mit der übersprudelnden Lebensfreude und dem unerschütterlichen Optimismus. Lea mit dem jüdischen Namen.
Eines Tages Mitte November kommt sie weinend zur Arbeit und erzählt, der Vater und die ältesten Brüder seien festgenommen und nach Berg außerhalb von Tønsberg gebracht worden. Sie schluchzt in den mütterlichen Armen der Kaltmamsell, läßt sich aber nach und nach von den Beteuerungen trösten. Denn sie haben ja nichts Schlimmes getan, der jüngste Bruder ist gerade fünfzehn Jahre alt. Nur der kleine Simon durfte zu Hause bleiben bei der Mutter und den Schwestern. Aber sie haben doch nichts getan!
Nein, sie können es nicht glauben, Borgny nicht und nicht die Kaltmamsell, daß ihnen etwas Ernstes geschehen kann. Sie trösten Lea, so gut sie können, und schaffen es schließlich, ein tränennasses Lächeln hervorzulocken. Am Sonntag drauf gehen sie in die Kirche und schließen sich dem Gebet des Pfarrers an, der für die verfolgten Juden Norwegens bittet. Und Borgny hält sich einige Tage von Hans fern. Das wird zu schwierig für sie, spürt sie.
Aber in diesen ungemütlichen Novembertagen helfen weder Gebete noch Glauben. An einem naßkalten Morgen wird Lea aus der Hotelküche abgeholt, wo sie gerade die Frühstückstabletts fertig macht. Der Hotelwirt, der die zwei in Zivil gekleideten Männer an der Rezeption empfängt, unternimmt nichts, um zu verhindern, was nun geschieht. Er verdient gut an den Deutschen, und jeder ist sich selbst der Nächste. Außerdem kann es ja doch wohl so übel nicht gehen, denkt er, und schickt Lea mit einem Klaps auf die Schulter hinaus in das, von dem weder er noch sie weiß, daß es die »Endlösung« sein soll.
An diesem Abend sitzt Borgny niedergeschlagen in ihrem Zimmer. Sie denkt an Lea, die inhaftiert ist, und an Hans, dem sie ein weiteres Mal abgeschlagen hat, ihn zu treffen. Sie sieht seine traurigen Augen vor sich und spürt an ihrem klopfenden Herz, daß sie so schrecklich gerne will. Aber sie kann nicht. Nach dem mit Lea ist ihr klar, daß sie nicht kann. Nicht, ehe Lea sicher wieder zu Hause ist. Denn sie würde nie Gewißheit haben, ob er nicht etwas damit zu tun hat.
Dennoch sehnt sie sich so sehr nach seinem warmen Lächeln, daß in dem Moment, als heftig an ihr Fenster geklopft wird, ihr erster Gedanke Hans! ist. Aber als sie das Fenster öffnet, sieht sie keineswegs die bekannte Gestalt. Im Schatten bei den Mülltonnen auf dem dunklen Hinterhof erkenntsie undeutlich die Gestalt eines kleinen Jungen im Hemd.
Simon! Aber Simon, was in aller Welt? Sie holt ihn in ihr Zimmer. Er weint und schlottert vor Angst und Kälte. So sehr zittert und bebt er, daß es anfangs unmöglich ist, ein verständliches Wort aus ihm herauszubekommen. Schließlich nimmt sie ihn einfach auf den Schoß. Sie wickelt ihn in die karierte Wolldecke und setzt sich in ihren einzigen Sessel. Wiegt ihn so lange, bis das Zittern etwas nachläßt. Da zieht sie ihm die feuchten Kleider aus, wäscht ihm das von Tränen verschmierte Gesicht und die mageren, schmutzigen Hände und bringt ihn zu Bett.
Er bekommt Brot mit Butter und Honig. Ragnhild hat ihr ein Paket geschickt mit Salzfleisch, Apfelgelee und einem großen Klecks Butter, das wird mehr als ein Achtel gewesen sein! Und obendrein ein Glas Honig, von Mathildes Bienen. Jetzt sieht sie, wie die Scheiben in dem ausgehungerten Jungen verschwinden. Er sitzt im Bett und hält sich den Teller unter das Kinn, um ja nicht einen Krümel zu verpassen, und als er fertig ist und sich die Finger abgeleckt hat, gibt er den Teller zurück, so sauber, wie er ihn bekommen hat. Dann trinkt er Wasser aus einer Blechkelle, die sie ihm reicht, und fängt wieder an zu weinen, hilflos schluchzend wie zuvor. Erst als sie sich ihr Nachthemd angezogen hat und zu ihm ins Bett gekrochen ist,wo sie im Stockfinstern hinter den Verdunkelungsrollos dicht zusammengerückt sind, gelingt es ihm, zu erzählen, was geschehen ist.
25
Sie kamen und haben sie aus der Schule geholt. Es waren viele Männer in Zivil und einige in Naziuniform. Es war mitten in einer Stunde, Simon hatte darum gebeten, aufs Klo gehen zu dürfen, und traf im Gang auf sie. Er weiß nicht, warum er nicht angehalten wurde, aber sie gingen
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