Lerchenherzen
einfach an ihm vorbei, ohne den kleinen Jungen in dem karierten Flanellhemd, den Knickerbockern und den selbstgestrickten Strümpfen zu beachten. Vielleicht hatten sie noch nicht gemerkt, wie gleich jüdische Kinder den anderen sind.
Er spürte, was geschehen würde, und bekam solche Angst, daß er weglief und sich in einer Mülltonne versteckte. Den ganzen Tag lang hatte er dort zusammengekauert gesessen. Vor Schreck wie gelähmt, hört er, wie die Nazis auf dem Schulhof herumkommandieren und die jüdischen Kinder zusammensammeln – viele davon seine engen Kameraden – und mit ihnen abmarschieren.
Nach der Schule wurde es ganz still, aber ergetraute sich dennoch nicht aus der Mülltonne heraus, denn stell dir vor, da kommen mehr von diesen gemeinen Nazis, und wohin sollte er gehen? Hier weint er wieder so heftig, daß der Rest der Geschichte im Schluchzen unterzugehen droht. Er traut sich nicht nach Hause. Wo ist Mutter, wo Lea und die anderen Schwestern? Und was haben sie mit Vater und den Brüdern gemacht?
Er weiß nicht, daß der Aufenthalt in der Mülltonne ihm zumindest die schreckliche Szene unten am Hafen erspart hat, als die kleinste Schwester, nur anderthalb Jahre alt, der Mutter von einem uniformierten Arm brutal aus den Händen gerissen wird und unter ihren Augen in der aufgebrachten Volksmenge verschwindet. Ihrer beider Phantasie reicht nicht, um sich dieses Schauspiel tiefster Demütigung vorzustellen, in Szene gesetzt durch das gefährlichste aller menschlichen Gefühle, den verdummenden, angsterfüllten Haß auf Menschen fremder Rasse.
Ach, wenn du doch da gewesen wärst, du unerschütterliche, erdverbundene Mutter Ragnhilds! Wenn du dich erregt in der wimmelnden Menschenmenge herumgedreht, je zwei im Nacken gepackt und ihre Nasen aneinander gerieben hättest, damit sie merken, daß sie zum gleichen Menschengeschlecht gehören! So wie du das vor vielen Jahren mit Ragnhilds ungestümen Brüdern getan hast. Wenn du den Uniformierten eine gründlicheStandpauke gehalten und deine Drohung, den einen zu packen und den anderen damit zu verhauen, umgesetzt hättest, so daß sie sich beschämt zurückgezogen hätten. Dann würde das Schiff, das am Kai liegt und wartet, ohne seine Last aus weinenden Alten, Frauen und Kindern, Futter für Hitlers Gaskammern, auslaufen müssen.
Aber nein, gegen die Dummheit kämpfen selbst die Götter vergebens. Und Ragnhilds Mutter hat an anderes zu denken, wie sie mit ihrem Mann zu Hause hinter dunklen Vorhängen sitzt, während mit Eisen beschlagene Absätze auf der Suche nach einem Hinweis, wo ihre zwei dummdreisten Jungen sich herumtreiben, schwer durch Kammern und Stuben trampeln. Davon, daß ihre Söhne in einigen Tagen diesen blaffenden Okkupanten einen ihrer Feinde wegschnappen werden, einen zu Tode erschrockenen, zitternden kleinen jüdischen Jungen, davon weiß sie nichts.
26
Die älteren Zwillinge verstecken sich seit Kriegsausbruch im Wald. Weder Ragnhild noch die Mutter wußten etwas von ihrem Leben in den Wäldern des Vestfold, wo sie von Hütte zu Hüttezogen und bald hier, bald dort alliierte Fallschirmsendungen entgegennahmen.
Die jüngeren Zwillingsbrüder sind nach Oslo gegangen, wo sie als eine Person auftreten und sich damit gegenseitig große Handlungsfreiheit verschaffen und außerordentlich halsbrecherische Manöver veranstalten, mit denen sie alle an der Nase herumführen, um der Okkupationsmacht Informationen entlocken zu können. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, und sie zeigen sich niemals gleichzeitig, deshalb weiß keiner, daß sie zwei sind, und zusammen mit ihrer Dummdreistigkeit und ihrem grenzenlosen jugendlichen Übermut eröffnet ihnen das ungeahnte Möglichkeiten.
Eigentlich weiß ich darüber nur wenig, denn besonders bereitwillig haben sie nie über das geredet, was sie während des Krieges getrieben haben. Aber daß sie in einer eiskalten Nacht im Dezember einen zehn Jahre alten, völlig verängstigten jüdischen Jungen über die Grenze nach Schweden und in die Freiheit gerettet haben, das weiß ich, weil Ragnhild es mir erzählt hat.
Denn Borgny wendet sich an Ragnhild. Als sie nach dieser schlaflosen Nacht aufsteht, zu Papier und Bleistift greift, den Blick immer wieder auf den schlafenden kleinen Kerl im Bett richtend, schreibt sie einen Brief, in dem sie ihre Sorge für einen kranken kleinen Vetter zum Ausdruck bringt. Er hat so einen häßlichen Husten, der Arme,und hohes Fieber, weiß Ragnhild Rat? Sollte er nicht
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