Lerchenherzen
ins Krankenhaus gebracht werden?
Ragnhild braucht nicht lange, um diesen Code zu knacken. Borgny hat früher Lea und Simon in ihren Briefen erwähnt, und einen Vetter hatte sie niemals, das weiß Ragnhild nur zu gut. Sie schaltet ihre Brüder in Oslo ein, und nach nur einer Woche, einer Woche, die der Junge mäuschenstill und angstvoll wartend zugebracht hatte, sitzen sie eines Abends zusammen, bereit, voneinander Abschied zu nehmen. Simon trägt Borgnys viel zu große, dicke Strickjacke über dem karierten Hemd, den Rest des Honigs zusammen mit dem, was Borgny an Proviant beschaffen konnte, in einem kleinen Bündel neben sich, und seine ängstlichen dunklen Augen sind auf Borgny gerichtet. Noch einmal wird er einen festen Halt in seinem Dasein verlieren, aber er weint nicht mehr. Vielleicht hat er zu viel Angst.
Um neun Uhr werden sie kommen und ihn holen. Nach Tagen unerträglichen Wartens auf ein Lebenszeichen hatte man Borgny diesen Bescheid an einer Straßenecke zugeflüstert. Sie wartet ungeduldig darauf, dieses hier hinter sich zu bringen, gleichzeitig spürt sie, daß sie nachts im Bett den kleinen weichen Körper vermissen wird. Ihr so nahe, so abhängig von ihr war noch niemals zuvor ein Mensch, und sie weiß nicht, ob sie es jemals wieder erleben wird.
Als sie auf der Treppe Schritte hören, schlingt sie die Arme um den Jungen, und so wird er sie sehen, als er hereingeplatzt kommt, Hans, der auf alle erdenkliche Weise versucht hat, mit ihr Kontakt aufzunehmen, auf dem Fußboden kniend, einen schmächtigen zehnjährigen Judenjungen in den Armen.
Simon begreift nichts. Er hört Borgny einen Namen flüstern und sieht den Mann in der Naziuniform, der Anblick erschreckt ihn zutiefst. Er hört den Wecker auf dem Nachttisch laut die einzelnen Sekunden ticken, hat aber keine Möglichkeit zu begreifen, was zwischen den beiden Erwachsenen vor sich geht, als der Deutsche, nachdem er, den Blick auf Borgny geheftet, eine Ewigkeit da gestanden hat, auf dem Absatz kehrt macht und die Treppe hinunter verschwindet.
Er fühlt, wie Borgnys Hände zittern, als sie ihm ein letztes Mal übers Haar streichelt, den letzten Knopf der Strickjacke zuknöpft und ihn bittet, hier zu warten, während sie selbst sich ihren Mantel nimmt und hinter dem uniformierten Mann hereilt. Fünf Minuten später wird er von einem anderen jungen Mann abgeholt, und in der gleichen Nacht wird er sicher über die Grenze nach Schweden gebracht. Er wird Borgny niemals wiedersehen.
Er wird auch die Mutter nie wiedersehen, Lea und die anderen Schwestern, die schon vor einigerZeit über eine andere Grenze gegangen sind, als sie nackt und weinend zusammen in einer Gruppe mit fünfzig anderen Frauen und Kindern in die deutschen Gaskammern gepfercht wurden. Der Vater und die Brüder gehen einer nach dem anderen in einer Hölle zugrunde, so raffiniert und das Böse an sich darstellend, daß der Teufel selbst es nicht besser hätte einfädeln können. Es dauert einige Monate, ehe sie alle weg sind, aber davon weiß natürlich der kleine Simon nichts, noch nicht.
27
Als Borgny auf die Straße kommt, hat es zu schneien begonnen. Große friedliche Schneeflocken sinken langsam vom Himmel und verbreiten eine Stimmung von Weihnachten und Erwartung, die in größtem Kontrast zu der wahnwitzigen Situation auf Erden steht. Sie fallen, als ob der Himmel selbst sich vorgenommen habe, alle Spuren von Blut und Leiden zuzudecken. In der dünnen weißen Schneedecke kann sie den Spuren seiner Stiefel folgen, wie deutlichen Zeichen auf einem unbeschriebenen Blatt Papier.
Und sie weiß, als sie sich ihm, der hinter derStraßenecke steht und auf sie wartet, eine dünne Lage weißen Schnees auf der Uniform, nähert, daß sie jetzt eine neue Seite in ihrem Leben aufschlagen wird, eine unbeschriebene Seite, von der sie noch nicht weiß, ob sie, wenn sie fertig beschrieben sein wird, die größten Freuden oder die größte Trauer enthalten wird. Er schlingt die Arme um sie und flüstert, das bleiche Gesicht gegen das ihre gepreßt, in seiner stotternden Mischung aus Norwegisch und Deutsch, daß sie niemals, niemals über das sprechen dürfen, was heute abend geschehen ist. Erfüllt von grenzenloser Dankbarkeit, daß der Junge gerettet ist und Ragnhilds Bruder in keine deutsche Falle laufen wird, läßt sie sich umarmen und küssen und festhalten, bis sie nicht länger weiß, ob die warme Freude, die sie spürt, von der Erleichterung herrührt, daß diese nervenaufreibende
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