Lerchenherzen
Woche endlich vorüber ist, oder aus Zärtlichkeit für ihn, der mit immer heftigeren Küssen und Umarmungen sein stummes Versprechen besiegelt, sie nicht zu verraten. Vermutlich ist es beides.
Arm in Arm lassen sie sich durch die leeren Straßen treiben, in einem weißen Niemandsland, wo das dichte Schneetreiben wie eine barmherzige Wand zwischen ihnen und dem Rest der Welt steht und sie in einer glänzenden Blase von Frieden und zaghaft wachsender Verliebtheit eingeschlossen hält und beschützt. Erst nach etlichenStunden kehren sie auf Borgnys Zimmer zurück, bürsten im Dunkeln auf der Straße vor der Haustür sich gegenseitig den Schnee ab und gehen die steile Treppe hinauf. Von Simon keine Spur mehr. Sie entkleiden sich und kriechen unter die Decke, dieselbe, unter der Borgny in den letzten Nächten voller Anspannung gelegen hat, den kleinen furchtsamen Jungen neben sich. Und davor so viele, viele Nächte allein.
Sein großer Körper, seine warme Haut, Sicherheit und Angst, Schmerz und Genuß, Trauer und Freude, alles verschmilzt in einem Chaos von Gefühlen, das sich in sie hineinsprengt und eine Verteidigung niederbricht, von der sie nichts wußte. Bedingungslos ergibt sie sich, und sie denkt in dem Augenblick, als er die Fassung verliert, daß sie dies hier nie, nie bedauern wird.
Ich weiß nicht, ob sie es an dem Tag bedauerte, als sie mit dickem Bauch zwischen harten Männerfäusten auf dem Hinterhof des Hotels steht, in dem sie arbeitet, während der Hotelbesitzer ihr prachtvolles Haar mit einer stumpfen Küchenschere abschneidet. Vermutlich war sie zu Tode erschrocken und fühlte weder Angst noch Trauer. Aber später betrauert sie Hans schmerzlich.
Sie schenkt einem kleinen Jungen das Leben, ein paar Monate, nachdem der Frieden gekommenist, der allerdings für sie und die anderen kahlgeschorenen »Deutschenhuren« mehr Unfrieden denn je bringt. Mit dem kleinen »Deutschenbalg« im Arm verkriecht sie sich in einer der erbärmlichsten Mietskasernen Oslos. Die Arbeit im Hotel hat sie natürlich verloren. Der Hotelbesitzer hat während des Krieges soweit gut an den Deutschen verdient, deshalb ist es wichtig zu zeigen, ihm selber und der ganzen Welt, auf welche Seite er in Wirklichkeit gehört hat.
So lebt sie also voller Scham ihr geschorenes Leben unter den verhuschten Seelen, mit Blick auf den Abort und die Mülltonnen. Sie verkauft die Dienste, die die Menschen von ihr annehmen wollen, und reicht das nicht, verkauft sie im Notfall den Körper, um ihren verschüchterten kleinen Jungen am Leben zu erhalten. Fünf Jahre vergehen, ehe sie Kontakt mit Ragnhild aufnimmt.
28
Das Tuberkulosesanatorium von Sandefjord liegt hoch oben auf dem Berg, auf einer hohen Felsenkuppe, der schlanke Giebel ist den gepflegten Villengärten unterhalb zugewandt. Grau und düster erhebt sich das Gebäude am Rande des steilenAbhanges, es wirkt, als habe es dort schon seit unvordenklichen Zeiten gestanden.
Ragnhild steigt beim Landstad-Denkmal aus, gleichzeitig mit einer gleichaltrigen Frau aus dem Nachbarort, und sie machen sich auf den Weg, der im Volksmund nur »Himmelsleiter« genannt wird, weil er so steil ist. Die Frau hat vier kleine Kinder dabei, drei Mädchen und einen kleinen Jungen, den sie auf dem Arm trägt.
Sie ist eine hübsche Frau, schmal und dunkel, Ragnhild kennt sie kaum. Sie gehört zum gleichen Missionsverein wie Ragnhilds nächste Nachbarin Gudrun, darauf weisen deutlich auch die glatt zurückgestrichenen, altmodisch frisierten Haare, die einfache Kleidung und das ungeschminkte Gesicht hin.
Die drei kleinen Mädchen tragen alle einen Rock, obwohl es fast noch Winter ist. Ragnhild erinnert sich, daß auch Gudrun ihrem kleinen Mädchen Solfrid meist einen Rock anzieht. Aber Gudrun hält sich nicht so streng an die ungeschriebenen Gesetze der Alten wie manche andere in diesem sehr pietistischen Zweig der Inneren Mission. Das hier sind richtig süße Kinder. Die Mädchen in selbstgenähten kleinen Gabardinejäckchen und karierten Wollröcken, alle drei sind sie gleich angezogen. Der Junge auf dem Arm trägt einen dunkelblauen Popelinanzug. Er schaut mit diesem verwunderten, beobachtenden Blick indie Welt hinaus, den Kinder im Alter von anderthalb Jahren oft haben. Als ob es darauf ankäme, nicht das kleinste Detail zu verpassen.
Die beiden ältesten Mädchen springen und tanzen um die Erwachsenen herum, erfüllt von dem Drang, sich zu bewegen nach der langen Busfahrt. »Wir gehn zur Oma! Wir gehn zur
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