Lerchenherzen
und sie war bei ihrer Ankunft ein heftig ersehntes Kind. Nicht nur weil ihre Mutter, Gudrun, sie in dem dicken Bauch drei Wochen länger als berechnet herumgeschleppt hatte, sondern auch, weil ihr Mann, Herman, fünfzehn Jahre lang darauf gewartet hatte, daß dieses Ereignis eintreffen möge. Besonders er hat gewartet, denn er ist unsagbar kinderlieb. Vielleicht, weil er selbst so viele Kinder in sich trägt, er ist so voller Leben und Einfälle, daß er dringend jemanden zum Herumalbern braucht. Und Gudrun ist ganz gewiß nicht besonders albern.
Schwermütig ist Gudrun, schwermütig und tief religiös. Ja, über lange Zeitabschnitte kann sie durchaus fröhlich sein, selbstverständlich. Sie schafft es, sich um ihre Hühner und Puten zu kümmern und für die fünf, sechs Gänse und Ganter, die sie auf ihrem kleinen Hof haben, zu sorgen. Währenddessen singt sie ihre trostreichen Kirchenlieder und blickt mit unerschütterlichem Glauben auf zum blauen Himmel.
Aber dann wieder ist es so, als ob Unser Herrgott selbst sanft und unerbittlich einen Nagel nach dem anderen aus dem Gebäude zieht, das sie zuSeiner Ehre errichtet hat, und es stürzt ein, und sie hat keine Macht, es zu verhindern. Der Himmel stürzt über ihrem Kopf ein, und voller Zweifel und Selbstvorwürfe gleitet sie in eine tiefe Schwermut, die sie ins Bett verbannt, und ihr Mann irrt ziellos und rastlos wie ein herrenloser Hund um das Bett herum.
Er versorgt das Vieh, so gut er kann, aber beim Kochen stellt er sich nicht besonders praktisch an, in der Küche geht es meist ziemlich chaotisch zu. Hätte ihm nicht die nächste Nachbarin Ragnhild mit Rat und Tat zur Seite gestanden, es ist schwer zu sagen, wie sie diese immer wiederkehrenden, schwierigen Zeiten überstanden hätten.
Aber die Liebe hält. Tatsächlich kann sie ziemlich unverwüstlich sein und sich zeitweise von wenig ernähren, wenn nur das Fundament solide genug ist. Daß sie die kleine Solfrid bekommen haben, bewirkt, daß Gudruns Depressionen seltener werden und weniger lange dauern, als ob das kleine Kind einen stabilen Keil in das zuzeiten so wackelige Gebäude eingeschlagen habe, der es daran hindert, gänzlich zusammenzufallen. ›Der Herr ist auferstanden‹ singt sie jetzt häufiger als ›Der Nagel zu einem Kreuz auf Erden‹.
Herman sieht, wie das kleine Mädchen seine Frau froher macht und wärmer und ihr mehr Zutrauen zum Leben schenkt, und wenn möglich, liebt er sie alle beide dafür noch mehr. Abends,wenn sie schlafen soll, spielt er für Solfrid Mundharmonika, nachdem sie mit der Mutter ihr Abendgebet gesprochen und ein Lied gesungen hat.
Zwischen den munteren Melodien auf der Mundharmonika des Vaters und den ernsten Kirchenliedern der Mutter wächst Solfrid zu einem unbekümmerten und glücklichen Kind heran, so wie Kinder es sein können, wenn sie so reich mit Liebe beschenkt werden.
Ihre intensiven Gefühle füreinander zeigen die Eltern nur selten offen, aber ab und zu kann Solfrid rasche kleine Zärtlichkeiten zwischen ihnen bemerken – eine kurze Umarmung oder einfach einen Blick. Oder die Hand des Vaters, wie sie über den Rücken der Mutter streicht, während sie am Herd oder beim Abwasch steht.
»Na du!« sagt die Mutter dann, und hat etwas Unerklärliches, Zärtliches in der Stimme, etwas Rätselhaftes, das Sol nie zuvor gehört hat und das ihr unversehens berichtet, daß die Eltern eine Welt miteinander teilen, zu der sie niemals Zugang haben wird. Aber eifersüchtig wird sie nicht. Es ist, als ob sie intuitiv spürte, daß genau diese Vertraulichkeit das Fundament ihres eigenen sicheren und geborgenen Daseins bildet. Ohne diese Gewißheit wären die regelmäßig wiederkehrenden Depressionen der Mutter unmöglich zu verkraften. Nie hat sie einen Ehekrach der Eltern erlebt. Es kommtvor, daß sie sich streiten oder »ein bißchen aneinandergeraten«, wie Mutter sagt, aber wirklich zerstritten sind sie nie. Eine heftige Diskussion endet leicht damit, daß der Vater versöhnlich einlenkt: »Ist gut, Mutter.« Und dann mit der Hand ein rascher Dank über ihren Rücken.
Andere Formen von Zärtlichkeit hat Solfrid so gut wie nie zwischen ihnen beobachtet. Als ob sie schüchtern etwas verstecken, das zu kostbar ist, um es vorzuzeigen, sogar vor ihr. Außerdem haben sie nur wenig Zeit, um aneinander zu denken.
Im Alltag gibt es anderes, das ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge verlangt. Hühner und Kühe, Puten und Gänse fordern ihren Teil, und im Sommer müssen das
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