Lerchenherzen
Erdbeerfeld und der Gemüsegarten beackert werden. Auch wenn ihr Hof nur klein ist und sie weder Kühe noch Schweine halten, gibt es immer etwas zu tun.
Der Vater versuchte es die eine oder andere Saison mit dem Walfang, hatte aber solche Sehnsucht nach Hause, daß er es aufgeben mußte. Er arbeitete in der Mannschaftsmesse und hatte mit dem Fang selbst nichts zu tun, aber allein der Gedanke, daß diese großen Tiere ihr Leben lassen müssen, ging ihm so nahe, daß er beinahe ebenso traurig und niedergeschlagen wurde, wie es seine Frau zeitweise werden konnte. Und die Sehnsucht nach ihr und der kleinen Tochter ist nicht zu ertragen. Wenn er weg ist, ist Gudrun außerdemmit der Zeit dermaßen deprimiert, daß sie nur unter großen Schwierigkeiten die kleine Sol zu versorgen und die Arbeit auf dem Hof zu bewältigen vermag. Ragnhild und Mathilde müssen ihr helfen.
Es nützt nichts, daß da gutes Geld zu verdienen ist. Die Eltern werden sich einig, daß sie lieber von der Hand in den Mund leben wollen, als ein halbes Jahr voneinander getrennt zu sein.
Nachdem er einige Winter lang stempeln gegangen ist, sucht er sich Arbeit in der Gemeinde beim Straßenbau. Zusammen mit dem, was er für das Holzfällen für Lars bekommt, reichen die Einnahmen zum Überleben. Zusätzlich fährt er die Zeitungen aus, die mit dem Sechsuhrbus aus der Stadt kommen. Anfangs radelt er, aber später bekommt er ein Moped, eine glänzende blaue Zündapp.
Solfrid erinnert sich an pechschwarze Wintermorgen und die murmelnden Stimmen aus der Küche. Der Duft von Kaffee – er bekommt rasch ein paar Scheiben Brot mit Fleischwurst, ehe er los muß. Und dann das Rascheln des Zeitungspapiers. Mutter ist es, die den Vater umsichtig in alte Zeitungen unter seiner Oberbekleidung einpackt, während sie besorgt auf das Thermometer vor dem Küchenfenster schielt.
»Fünfundzwanzig Grad minus! Dann sind es in Holmane mindestens dreißig, dort zieht es so beißend vom Fluß!« klagt sie, während sie alle Ritzenzustopft, bis der Mann am Schluß steif und breitbeinig wie ein Teddybär in der Küche steht, von Kopf bis Fuß eingepackt in Zeitungen, Kleidung und Fürsorglichkeit. Ganz zum Schluß muß er sich die sonderbare Plastiktüte überstülpen, die das Gesicht gegen den eiskalten Wind schützen soll. So wankt er mit der blauen Zeitungstasche hinaus zum Moped.
Mehr als dreißig Kilometer wird er fahren, auf vereisten Winterstraßen, mit Zeitungen für ein paar hundert Abonnenten. Den kleinen Extraverdienst können sie gut gebrauchen. Zusammen mit dem, was sie für das Stricken der Jacken in Heimarbeit bekommt und ihre Einnahmen durch Geflügel und Erdbeeren, schaffen sie es, das Haus abzubezahlen und sogar etwas zur Seite zu legen. Denn Sol soll eine Ausbildung bekommen, das hat Mutter entschieden.
37
Es ist etwas Wunderbares und Rätselhaftes, einem neugeborenen Kind in die Augen zu schauen und zu wissen, daß es keine Gedanken hegt, jedenfalls keine Gedanken, die es in Wörter oder Bilder formen könnte, denn es hat ja noch keine Wörteroder Bilder, um sie ihnen weiterzugeben. Dennoch schaut ein solches kleines Kind mit großen Augen gleichsam altklug verwundert in die Welt, als ob es die Antwort auf das größte Geheimnis des Lebens ahnte.
Dieser verwunderte und gleichzeitig nach innen gewandte Blick läßt einen nachdenken, ob dort hinter der kleinen, gewölbten Stirn eine Welt zu finden sei, größer als wir es erfassen können. Es ist, als ob sich das Kind bemühte, eine Wahrheit zu ergründen, und als ob es wüßte, sie wird verlorengehen, wenn ihm erst Wörter und Bilder zur Verfügung stehen werden.
Wir alle haben einen ersten Augenblick, ein erstes Erlebnis, das wir erinnern und das wir später in Wörter fassen können. Beginnen wir da, allen Ernstes, Menschen zu sein?
Für Solfrid ist dieser Augenblick mit einem Frühlingstag Ende der vierziger Jahre verknüpft. Sie ist drei Jahre alt. Sie trägt einen verblaßten lachsroten Popelinanzug und spielt mit Eimer und Schippe in der Sandkiste hinter dem Hühnerstall. Jetzt erhebt sie sich, wirft die Schaufel fort und rennt zum Haus, wo die Küchentür offensteht, vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahr.
Noch weiß sie nichts von ihrem Leben. Kann sie aufgehalten werden? Kann sie überhaupt in dem vorbewußten, verwunderten Universum des Kindes gehalten werden? Nein. Sie legt die Händeauf die Treppe, beugt sich vor, und dieses Erleben schlägt sich in ihr nieder.
Und das erinnert sie
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